Kurzer
Überblick über Lage und Grenzen des Russischen Reiches
Das
den ganzen Nordosten der alten Welt einnehmende Russische Reich umfaßt
einschließlich der Vasallenstaaten Chiwa und Buchara über 22 Millionen
Qkm und kommt damit einem Sechstel der Oberfläche des gesamten Festlandes
gleich. An Größe wird es nur von Großbritannien mit seinen gesamten
Kolonien und Protektoraten übertroffen, stellt aber diesem gegenüber
eine einheitliche, ungetrennte Masse dar. Das gesamte Rußland ist etwa 40
mal, das Europäische Rußland 10 mal größer als Deutschland.
Das Russische Reich grenzt an 11 fremde Staaten: Norwegen, Schweden,
Deutschland, Österreich-Ungarn, Rumänien, die Türkei, Persien,
Afghanistan, China, Korea und Japan. Weitere zwei Staaten sind nur durch
schmale Bänder von Rußland getrennt: die Vereinigten Staaten von
Nordamerika durch die 60 Werst*) breite Beringstraße und Indien durch
einen nur 30 Werst breiten, in Afghanistan gelegenen Grenzstreifen.
Mehrere dieser Grenzstaaten sind militärisch völlig bedeutungslos oder
doch Rußland soweit unterlegen, daß ihnen gegenüber ein besonderer
Grenzschutz unnötig wird; einen solchen hält Rußland namentlich geboten
im Westen dem militärisch starken Deutschland und Österreich, im Osten
Japan (und in Zukunft vielleicht auch China) gegenüber. Ein großer Teil
des gewaltigen Grenzsaumes ist übrigens durch starke natürliche
Hindernisse hinreichend geschützt.
Die horizontale Gliederung Rußlands ist außerordentlich einfach:
die im Norden vom Eismeer begrenzte ungeheure Fläche weist auf der
Landseite verhältnismäßig nur wenige in fremde Staaten vor oder zurückspringende
Buchten und Landzungen auf; eine Ausnahme macht im Westen das weit in
deutsches und österreichisches Gebiet hineinragende Polen und im Osten
das der Mandschurei benachbarte Ussurigebiet.
*) l Werst == 1,067 km.
Der weitaus größte Teil - etwa 2/3 - des mehr als 60000 Werst langen
russischen Grenzsaumes wird vom Meere oder großen Binnenseen bespült,
aber die meisten der ausgedehnten Küstenbezirke sind wirtschaftlich und
militärisch völlig bedeutungslos; so ist die ganze Nordküste Sibiriens
und die an das Beringsmeer grenzende Ostküste infolge der lang
andauernden Vereisung den größten Teil des Jahres über von der See her
so gut wie unzugänglich; das Kaspische Meer und der Aralsee haben nur örtliche
Bedeutung, das Ochotskische Meer mit dem Tatarischen Golf und der nördliche
Teil des Japanischen Meeres dagegen gewinnen trotz wenig günstiger
Schiffahrtsbedingungen (Nebel, rauhes Klima und monatelange Vereisung)
allmählich wirtschaftlich an Wert.
Eine eigentümliche Rolle spielt das Schwarze und das Asowsche Meer für
Rußland; sie sind wirtschaftlich von der allergrößten Wichtigkeit
(russische Getreideausfuhr!), militärisch dagegen insofern von beschränkter
Bedeutung, als den russischen Kriegsschiffen die Ausfahrt durch die
Dardanellen untersagt ist.
Den einzigen Zugang ins offene Meer bietet im Europäischen Rußland das
Baltische Meer, aber auch hier findet die russische Flotte wenig günstige
Verhältnisse vor, denn die Durchfahrt durch Sund, Kattegat und Skagerrak
kann leicht gesperrt werden. An Küstenbefestigungen sind zu verzeichnen:
Im Baltischen Meere:
Festung
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1.
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Klasse
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und
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Kriegshafen
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Kronstadt
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"
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1.
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"
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"
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"
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Libau
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"
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2.
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"
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"
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"
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Sveaborg
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"
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3.
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"
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Wiborg
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"
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3.
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"
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Ust-Dwinsk
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Als zukünftiger Flottenstützpunkt ersten Ranges wird Reval ausgebaut und
neu befestigt werden. Die feierliche Grundsteinlegung des Kriegshafens
fand am 13. Juli 1912 statt. Im Schwarzen Meere:
Festung
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2.
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Klasse
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und
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Kriegshafen
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Sewastopol
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"
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3.
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"
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Kertsch
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"
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3.
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"
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Otschakow
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"
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2.
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"
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Michailows
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Im
fernen Osten:
Befestigung von Nikolajew
Festung
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1.
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Klasse
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und
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Kriegshafen
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Wladiwostok
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Die Landgrenzen Rußlands beginnen im Nordwesten im unwirtlichen, dünn
bevölkerten Skandinavien; hier trennt eine 715 Werst lange Grenze Rußland
von Norwegen, von Schweden eine solche von 502 Werst. Die rauhe Natur des
schwach besiedelten Landes machen militärische Unternehmungen hier sehr
wenig wahrscheinlich.
Im Süden folgt nun die 1100 Werst betragende Grenze gegen Deutschland,
der sich die 1150 Werst lange gegen Österreich anschließt. Die
gewaltigen militärischen Streitmittel dieser beiden Nachbarländer haben
Rußland veranlaßt, schon im Frieden außerordentlich starke
Truppenmassen namentlich in den weit nach Westen vorspringenden
Weichselprovinzen zu versammeln, deren Randgebiete einem feindlichen
Einfall keinerlei natürliche Hindernisse entgegensetzen. Solche finden
sich erst im Innern Polens und der sich nordöstlich und südöstlich
anschließenden Bezirke, und werden hier durch eine ganze Reihe künstlicher
Anlagen verstärkt (Befestigungen von Kowno, Ossowiez, Nowogeorgijewsk,
Warschau, Segrsh, Iwangorod, Brest-Litowsk, Dubno, denen sich im Osten als
Rückhalt Dwinsk und Bobruisk anschließen).
Weiterhin grenzt Rußland in einer Ausdehnung von 7 50 Werst an Rumänien,
eine militärisch an sich wenig bedeutende Macht, die nur als etwaiger
Verbündeter russischer Gegner in die Wagschale fallen könnte.
Zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meere scheidet die Grenze Rußland
von der Türkei (520 Werst) und Persien (etwa 600 Werst); die türkische
Grenzlinie verläuft größtenteils über das gut verteidigungsfähige
Bergland des Kleinen Kaukasus;
sie hatte bis in die jüngste Zeit weder wirtschaftlich noch militärisch
eine wesentliche Bedeutung, kann aber in Zukunft eine solche wohl durch
den Ausbau der Bagdadbahn in Kleinasien gewinnen. Die persische Grenze
folgt zuerst dem Araxflusse und geht dann durch die Mugansteppe zum Südufer
des Kaspischen Meeres. In einer Ausdehnung von rund 900 Werst folgt sie in
Westasien dem Flußlaufe des Atrek, überquert dann den Gebirgskamm des
Kapet-Dagh und führt endlich zum Tedschen-Flusse, der die Grenzlinie
gegen Afghanistan bildet. Diese an vielen Stellen gut zugängliche
persische Grenze hat seit dem russisch-englischen Vertrag vom Jahre 1907
viel von der Bedeutung einer festen politischen Grenzscheide eingebüßt,
denn in jener Übereinkunft erfolgte die Festlegung der russischen und
englischen "Interessensphären" in Persien, die sich nun als
breite Bänder den eigentlichen Grenzlinien vorlagern. Durch die
persischen Unruhen der jüngsten Zeit hat sich Rußland wiederholt zum
Eingreifen veranlaßt gesehen und heute noch liegt eine Anzahl russischer
Truppen auf persischem Gebiete.
Nach der persischen folgt die Grenze gegen Afghanistan, die sich in der
ungeheuren Ausdehnung von 2000 Werst vom Tedschen zuerst durch
Steppengebiete, dann dem Flußlaufe des Amu-Daria folgend und endlich am
West- und Südrand des Pamir-Hochlandes gegen den Beik-Paß erstreckt.
Militärisch ist nur dieser letzte Teil insofern von Wichtigkeit, als hier
die englische (indische) Grenze auf ganz nahe Entfernung an die russische
herantritt.
Es reiht sich nun der weitaus längste Grenzsaum an: die etwa 10000 Werst
lange russisch-chinesische Grenze, die sich von den mittelasiatischen
Gebirgssystemen über den Baikalsee und dem Amur entlang nach Osten
erstreckt. Vielleicht bewirkt in der Zukunft das Erstarken Chinas und die
mannigfachen Umwälzungen in diesem Riesenreiche, z. B. die
Absonderungsbestrebungen der Mongolei, daß auch dieser bislang so ruhige
Grenzsaum militärisch eine Rolle spielen wird. Von dem unter Japans
Oberhoheit stehenden Korea trennt Rußland nur eine ganz schmale Grenze am
Tumen-Ulafluß und unmittelbar an Japan grenzt Rußland auf der Insel
Sachalin, wo durch den Friedensschluß vom Jahre 1905 der 50. Breitengrad
als Grenzscheide festgelegt wurde.
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