Europäisches
Rußland
Das
Küstengebiet von Riga bis St. Petersburg
Lage
und Grenzen
Der Kriegsschauplatz wird begrenzt im Westen durch den Rigaischen
Meerbusen mit den beiden nördlich vorgelagerten Inseln Ösel und Dagö,
im Norden durch den Finnischen Meerbusen, im Südosten durch die Südgrenzen
der Gouvernements Livland und St. Petersburg und im Südwesten durch den
Unterlauf der Düna. In militärischer Beziehung ist dieses zwischen
Finnland und dem nordwestlichen Kriegsschauplatz gelegene, die
Gouvernements Livland, Estland und St. Petersburg (Ingermanland)
umfassende Gebiet insofern wichtig, als es den unmittelbaren Grenzbezirk
der russischen Hauptstadt einschließt und daher bei feindlichen
Unternehmungen gegen diese zu Wasser und zu Lande wohl eine Rolle spielen
wird.
Die
Küste
Der Küstensaum weist große Unterschiede auf: neben einfachster
Gestaltung (wie in der Rigaischen Bucht) tritt auch eine reiche Gliederung
mit vielen Landzungen und vorgelagerten Inseln auf, wie z. B. am estländischen
Gestade. Die Küste ist im allgemeinen flach, nur zwischen Baltisch-Port
und Narwa fällt sie 60-80 m steil ins Meer hinab: es ist dies der
sogenannte "Glint". Westlich von St. Petersburg schneiden 3
Buchten in das Land ein: die Koporja-, die Luga - und die Narwabucht. Die
dem niedrigen Ufer vorgelagerten Sandbänke erschweren die Landung bei den
9 zuerst genannten Buchten erheblich, während bei der Narwabucht etwas günstigere
Verhältnisse anzutreffen sind. Im weiteren Verlauf nach Westen - bis zum
Kap Spintham ist die Küste reicher gegliedert, zahlreiche Landzungen
erstrecken sich ins Meer hinaus, das hier beträchtliche Tiefe aufweist
und auch großen Schiffen vielfach die Landung ermöglicht. Reval und
Baltisch-Port besitzen in diesem Abschnitte die günstigsten Ankerplätze.
Der nun folgende Küstensaum bis Riga ist wieder wenig zur Ausschiffung
geeignet, denn viele in dem seichten Fahrwasser gelegenen Sandbänke
behindern die Schiffahrt. Gegenüber der estländischen Ausbuchtung liegt,
durch einen schmalen Meeresarm getrennt, der Moonsund-Archipel, bestehend
aus den zwei großen Inseln Ösel und Dagö und den kleineren Moon und
Worms. Durch ihre Lage am Zugang zum Rigaischen Busen und in der Flanke
der Eingangsstraße zum Finnischen Meerbusen sind die Inseln für Rußland
nicht ohne Bedeutung -. wenn sie infolge des sie umgebenden seichten
Fahrwassers auch kaum als Basis für große Kriegsschiffe in Betracht
kommen, so bieten sie doch eine solche für wenig tiefgehende Minenboote
bei ihren Unternehmungen gegen die feindliche Flotte. (Nach dem neuesten
russischen Flottenprogramm ist der Bau von 36 Minenschiffen vom Typ des
"Nowik" geplant.)
Bodengestalt
und Bewässerung
Die Küste ist bis weit landeinwärts zum großen Teil mit Wäldern und Sümpfen
bedeckt, durch die zahlreiche Wasseradern dem Meere zuströmen. Von den Flüssen
ist der bedeutendste die Narowa, ein 60 km langer Ausfluß des Peipussees.
Infolge ihrer beträchtlichen Breite (1100-500 m) und Tiefe (3-8 m), sowie
des sumpfigen Ufergeländes wegen bildet sie ein ernstliches militärisches
Hindernis und sperrt im Verein mit dem Peipussee alle aus Estland gegen
St. Petersburg heranführenden Wege. Der gewaltige Ausfluß des Ladogasees,
die Newa, durchströmt den 66 km breiten Istmus zwischen genanntem See und
dem finnischen Busen und mündet bei St. Petersburg in vier Armen, von
denen der mächtigste 400 m breit ist. Militärisch ist sie für Rußland
insofern wichtig, als sie eine sichere Verbindung zwischen der Hauptstadt
und dem Innern des Reiches (durch das Wolga-System) ermöglicht, also auch
nach Unterbrechung der Moskau-Petersburger Bahn die Zufuhr gestattet. Von
den übrigen Flüssen des Kriegsschauplatzes bilden mehr oder weniger
bedeutende Hindernisse je nach der Jahreszeit und Witterung die Luga, die
bei Jamburg auf 92 Brücken überquert wird, die Livländische Aa, die
Walljega, die Pernowa und andere kleinere, in sumpfigem Gelände fließende
Gewässer. Ausgeschiffte Truppen finden mithin im großen Ganzen recht ungünstige
Vormarschverhältnisse landeinwärts vor. Diese bessern sich erst wenn der
am Meer gelegene Sumpfgürtel überwunden und eines der Plateaux erreicht
ist, die zwischen Düna und Newa aus der unfruchtbaren Gegend emporragen.
Es sind dies im Südwesten von St. Petersburg das Koporja-Plateau, dann
der estländischen Küste gleichlaufend die Estländischen Höhen und
endlich zwischen Düna und Livländischer Aa die sogenannte Livländische
Schweiz. In diesen Bezirken ist die Bevölkerung relativ am dichtesten,
die Bodenausnutzung am intensivsten.
Klima
Das Klima ist feucht und kalt, wird aber doch bis zu einem gewissen Grade
durch die Nähe des Meeres gemildert. Man rechnet für Kurland eine
durchschnittliche Frostperiode von 110, für St. Petersburg eine solche
von 150 Tagen. Die Übergänge von Wärme zu Kälte und von klaren zu
regnerischen Tagen sind sehr schroff.
Bevölkerung
Auf die QW treffen 40 Einwohner; diese Zahl geht jedoch auf 290 herunter,
wenn die großen Städte außer Betracht gelassen werden (St. Petersburg
1500 000 Einwohner, Riga 9-83 000 Einwohner, Reval 66000 Einwohner). Das
flache Land ist also äußerst dünn bevölkert; im Osten, im Gouvernement
St. Petersburg, wohnen neben den Russen auch Finnen (Esten), die den
Hauptteil der Bevölkerung Estlands bilden und auch in Livland neben den
Letten stark vertreten sind, während letztere in Kurland vorherrschen. In
allen Provinzen aber sind die besitzenden und kulturfördernden Elemente
deutscher Abstammung. Im einzelnen ist die Verteilung in den
Ostseeprovinzen folgende (in Prozenten):
Gouvernement
|
Russen
|
Finnen
|
Deutsche
|
Letten
|
St.
Petersburg
|
83
|
10
|
3
|
-
|
Estland
|
5
|
89
|
5
|
-
|
Livland
|
5
|
40
|
8
|
44
|
Kurland
|
6
|
-
|
8
|
78
|
Im
Hinblick auf die meist kleinen, häufig weit auseinander liegenden
Ortschaften - in Livland treffen nur 1-92 Höfe durchschnittlich auf einen
bewohnten Punkt - sind die Unterkunftverhältnisse ungünstig zu nennen,
wenn auch die Städte, die Höfe der deutschen Gutsbesitzer sowie die
Pfarrhäuser der protestantischen Esten und Letten vereinzelt gute
Quartiere abgeben. Die Hauptbeschäftigung der Bewohner bildet Ackerbau
und Viehzucht; trotz der denkbar besten Bearbeitung des Bodens ist doch
infolge der weiten unproduktiven Gebiete die Zufuhr von Getreide für die
eingeborene Bevölkerung notwendig; hingegen ist meist ein Überschuß an
Kartoffeln vorhanden und auch an Schlachtvieh herrscht kein Mangel. Große,
nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in militärischer Beziehung
wichtige Getreidestapelplätze finden sich in den Ausfuhrhäfen Riga,
Libau, Windau und Reval.
Eisenbahnen
Eine Bahnlinie längs der Südküste des Finnischen Busens (St. Petersburg
- Gatschina - Reval - Baltisch-Port bzw. Hapsal) ermöglicht den Transport
von Truppen und Vorräten auf dieser wichtigen Strecke. Von Reval führen
Verbindungen nach Pernow und Riga, von dieser Stadt und dem südöstlich
an der Düna gelegenen Stockmannshof je eine Verbindung in nordöstlicher
Richtung über Walk und Dorpat nach Taps (zwischen Narwa und Reval). So
ist die Möglichkeit von Truppenverschiebungen längs der Küste, zu den
wichtigsten Häfen und landeinwärts gegeben, wenn auch die Leistungsfähigkeit
der nur eingeleisigen Strecken nicht allzu hoch anzuschlagen ist. Als
Nachteil kann sich fühlbar machen, daß die Bahn längs des Finnischen
Busens ziemlich nahe an der Küste verläuft und damit leicht Zerstörungen
durch ausgeschiffte feindliche Truppen ausgesetzt ist.
Wege
Straßen und Verbindungswege sind zwar in genügender Anzahl vorhanden -
namentlich im Südwesten - sie sind jedoch mit Ausnahme der auf den Hochflächen
angelegten häufig infolge des sumpfigen Untergrundes schwer instand zu
halten und je nach Jahreszeit und Witteran- von wechselnder
Beschaffenheit. Viele durch Wald und Sümpfe führende Wege tragen den
Charakter langer Engnisse. Nach St. Petersburg, führt durch Estland nur
eine Chaussee nördlich am Peipussee vorbei; sie verläuft zwischen der Küste
und der Bahnlinie Reval-Narwa und überschreitet bei letzterem Ort die
Narowa.
Befestigte
Plätze
Etwa 24 Werst westlich von St. Petersburg - auf der Insel Kotlin - liegt
die Seefestung 1. Klasse Kronstadt, zum unmittelbaren Schutze, der
Hauptstadt bestimmt. Die auf Rosten erbauten Batterien beherrschen die
Einfahrt zur Kronstädter Bucht. Die heutigen Befestigungen stammen teils
aus der Zeit Kaiser Nikolaus I., teils wurden sie 1856-71 nach den Plänen
Todtlebens angelegt. Zur Zeit kann die Festung, die über umfangreiche
Werften verfügt, noch als Basis für die baltische Flotte gelten, während
sie in Zukunft, nach dem Ausbau Revals, nur mehr als Reservebasis gelten
kann. Abgesehen von sonstigen Neu- und Umbauten wird Kronstadt ein
Trockendock von 261 in Länge erhalten. Die wichtigste Neuschöpfung aber
nach dem russischen Flottenbauprogramm wird Reval werden, das als ein Stützpunkt
allerersten Ranges ausgebaut werden soll. Es wird dort eine Westmole
geschaffen, die 481 m lang und 47,5 m breit ist, so daß auf ihr 3
Eisenbahngeleise nebeneinander laufen können. Der Ausbau Revals, über
den weitere Nachrichten nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sind, soll
bis zum 1. Januar 1916 fertig gestellt sein. Von den übrigen Werften
erhalten Vergrößerungen: die baltische Werft, die Galeereninsel und die
neue Admiralitätswerft in St. Petersburg. In diesem Zusammenhange dürften.
einige kurze Angaben über das neue russische Flottengesetz vom Jahre 1909
angezeigt sein. Nach diesem Gesetze sollen bis 1924 für die baltische
Flotte 16 neue Linienschiffe, 8 Linienschiffskreuzer und 16 kleine Kreuzer
sowie 46 Hochseetorpedoboote gebaut werden. Aus den 16 Linienschiffen
sollen 2 aktive, aus den dann noch vorhandenen kriegsbrauchbaren älteren
Schiffen 1 Reservegeschwader gebildet werden. Das 1. aktive Geschwader
soll 1918, das 12. 1924 fertig sein. Die ersten vier Schiffe ("Gangut-Klasse")
sind bereits 1911 vom Stapel gelaufen.
Militärische
Bedeutung des Kriegsschauplatzes
Nach russischer Ansicht wird das Gebiet im Falle eines Krieges
voraussichtlich der Schauplatz selbständiger Operationen. werden, da die
im Besitze der Seeherrschaft befindlichen Deutschen ihre maritime Übermacht
in den baltischen Gewässern dazu benutzen werden, um entweder:
1. sich St. Petersburgs zu bemächtigen oder
2.eine Scheinunternehmung gegen St. Petersburg in Szene zu setzen, um
starke russische Kräfte vom Hauptkriegsschauplatze fern zu halten, oder
3. gegen die russischen rückwärtigen Verbindungen nach dem
nordwestlichen Kriegsschauplatze zu wirken, oder endlich
4. sich der wichtigsten Häfen an der baltischen Küste zu bemächtigen -
wobei natürlich mehrere dieser Ziele gleichzeitig verfolgt werden können.
In den der russischen Regierung gleichgültig oder gar feindselig gegenüber
stehenden Bewohnern des Gebietes werden die gelandeten deutschen Truppen
unter Umständen eine wesentliche Unterstützung finden, so daß Rußland
zum Schutze seiner Verbindungen jedenfalls starke Kräfte nötig haben
wird. Wie in vielen Gebieten des russischen Reiches, so kommt auch hier
die Natur der Verteidigung zu Hilfe, denn die zahlreichen durch Sümpfe
und Wälder gebildeten Engnisse begünstigen diese Kampfart. |