Europäisches
Rußland
Das
Poljessje
Lage
und Grenzen
Das östlich der Weichselprovinzen gelegene, auch unter dem Namen der
Rokitno-Sümpfe bekannte Poljessje ist das größte Sumpfland Europas. Zu
beiden Seiten des dem Dnjepr zuströmenden Pripet dehnen sich ungeheure,
größtenteils bewaldete Sumpfstrecken aus, die an Umfang das Königreich
Bayern weit übertreffen (87 000 qkm). Das Gebiet, welches die
Gouvernements Grodno und Minsk fast völlig umschließt, hat die Gestalt
eines sich nach Osten verbreiternden Rechteckes. Die verhältnismäßig
schmale westliche Begrenzung bildet der westliche Bug, die breitere östliche
der Dnjepr, die südliche die Straße Kijew - Luzk - Wladimir - Wolynsk -
Ustilug- und die nördliche die Linie Rogatschew - Bobruisk - Sluzk
Brest-Litowsk.
Die Versumpfung des Poljessje rührt vom mangelnden Gefälle der
Wasseradern und dem Umstande her, daß die südlichen Zuflüsse viel eher
auftauen als die nördlichen. Die russische Regierung hat schon vor vielen
Jahren die Entwässerungsanlagen begonnen und so tatkräftig gefördert,
daß von 1874 bis zum Jahre 1899 etwa 59 % des Gebietes durch Kanäle
entsumpft und urbar gemacht worden sind. Trotzdem gehört die
Pripetniederung auch heute noch zu den ärmlichsten und am dünnsten bevölkerten
Landschaften Rußlands.
Flüsse
Der zwischen Brest-Litowsk und Wladimir - Wolynsk entspringende, etwa 500
km lange Pripet besitzt eine Breite bei Pinsk von etwa 60 m, bei Mosyr von
200 in und an der Mündung von etwa 400 m. Schon von Rowno aus wird der
Fluß schiffbar und von Pinsk an verkehren Dampfschiffe. Nicht sumpfige
Uferstreifen finden sich nur stellenweise in der Mitte und am Unterlauf,
im übrigen aber begleiten den Fluß breite, meist ungangbare, mit Schilf
bewachsene Sumpfstrecken, deren Beschaffenheit natürlich mit der
Jahreszeit wechselt und die im Frühjahr meilenweithin überschwemmt sind.
Während dieser
Zeit, in der Regel Ende März, steigt der Wasserspiegel oft um 2 m und
dann bildet das Pripettal nicht selten eine 10 bis 20 Werst breite
Wassermasse, die jeden Verkehr zu Lande zwischen den weit
auseinanderliegenden Wohnplätzen unmöglich macht. Anfangs Juni geht der
Pripet wieder auf seine gewöhnliche Höhe zurück, Ende Dezember friert
er in der Regel zu.
Nur in seinem Oberlaufe vermitteln Brücken den Verkehr zwischen beiden
Ufern; bei Luninez führt eine Eisenbahnbrücke über den Fluß. - Die
wichtigsten Nebenflüsse sind: rechts die Tarija,. der Stochod, der Styr,
der Goryn mit seinem Nebenfluß Slutsch, der Ubort und der Usch, links die
Jassjolda, der Slutsch (nicht zu verwechseln mit dem südlichen Slutsch)
und der Ptitsch. Die Jassjolda ist durch den Uginski-Kanal mit der Schara
und damit auch mit dem Njemen verbunden. Auch mit dem westlichen Bug
besteht eine Verbindung und zwar durch die der Jassjolda zuströmende Pina,
die durch den Bug-Dnjepr-Kanal mit dem Muchawjez, verknüpft, ist.
Geländegestaltung
Das Poljessje bildet eine überaus durchschnittene, zum Pripet leicht
abfallende Ebene, die großenteils mit dichtem Wald bedeckt ist. Die
ausgedehnten Sumpfflächen und die zahlreichen, in sumpfigen Tälern
langsam dahinfließenden Zuflüsse erschweren nicht nur in den meisten
Bezirken militärische Unternehmungen größeren Stiles, sondern schließen
sie geradezu aus. Ebenso ungünstig wie für die Bewegungen großer
Heeresmassen liegen die Verhältnisse für Verpflegung und Unterkunft in
diesem ärmlichen und dünnbevölkerten Landstrich. So ist an militärischen
Unternehmungen im allgemeinen hier nur der kleine Krieg denkbar.
Im übrigen sind die Geländeverhältnisse im Poljessjegebiete durchaus
nicht überall gleichartig: sie sind im allgemeinen im Westen weniger ungünstig
als im Osten, denn westlich der Jassjolda und des Goryn beschränken sich
die ungangbaren Sumpfstrecken in der Hauptsache auf das breite Pripettal
selbst, und der auf weite Strecken nun trocken gelegte Boden gestattet
vielerorts den Ackerbau. Manche der dort befindlichen Wasseradern haben
jetzt trockene Ufer, das Wegenetz ist im Vergleich zur östlichen Hälfte
bis zu einem gewissen Grade entwickelt, Ansiedlungen sind häufiger und
die Erzeugnisse des Bodens weniger ärmlich.
Im östlichen sich immer mehr verbreiternden Teile dagegen hemmen
ausgedehnte offene Sümpfe und sumpfige Forsten die Gangbarkeit in hohem
Grade, besonders trifft dies zu nördlich des Pripet für
das Gebiet zwischen Jassjolda, Slutsch und Ptitsch, südlich für die
Gegend zwischen dem Goryn und Ubort.
Für militärische Operationen geeignet - und auch hier nur in bedingtem
Maße - ist mithin nur das westliche Drittel, während in der Mitte und im
Osten ein Operieren größerer Truppenkörper so gut wie ausgeschlossen
erscheint.
Klima
Das Klima des Poljessje ist zwar gemäßigt, aber trotzdem ungesund, denn
die hohe Sommertemperatur erzeugt in den zahlreichen Sümpfen und
stehenden Gewässern Ausdünstungen, die im Zusammenhange mit den ungünstigen
Lebensbedingungen der Bewohner häufig Wechselfieber und Typhus
verursachen. Auch der Weichselzopf soll noch auftreten.
Der Winter ist im allgemeinen nicht strenge und nicht lange andauernd,
dabei aber doch sehr schneereich. Die Flußläufe und stehenden Gewässer
frieren in der Regel Mitte Dezember zu und tauen Mitte März wieder aut.
Im Frühjahr und Herbst fallen zahlreiche und heftige Regengüsse, der
Sommer zeigt oft sehr hohe Temperaturen.
Bevölkerung
Infolge der schlechten Lebensbedingungen ist das Poljessje nur schwach bevölkert
(36 Menschen auf die QW). In manchen Bezirken, besonders im Nordosten und
in der Mitte, sinkt die Bevölkerungsdichte auf 16 auf die QW - z. B. im
Kreise Mosyr -während sie im Südosten und Südwesten sich über den
Durchschnitt erhebt.
Die Ortschaften liegen weit auseinander - eine auf 12 QW und sind meist
klein und ärmlich, sodaß die denkbar schlechtesten Unterkunftsverhältnisse
vorliegen.
Etwa 57 % der Bewohner sind Russen und zwar in der Mehrzahl Weißrussen,
15 % Juden, der Rest Polen und auch Deutsche, letztere am Oberlauf des
Goryn und nördlich von Shitomir.
Die Hauptbeschäftigung der Bewohner bildet trotz des geringen anbaufähigen
Gebietes Ackerbau und Viehzucht; das Getreide reicht jedoch nicht einmal
zur Ernährung der schwachen Bevölkerung aus, die daher auf die Zufuhr
angewiesen ist; dagegen ist die Viehzucht so entwickelt (50 Stück
Hornvieh auf 100 Menschen), desgleichen die Pferdezucht (921 auf 100
Einwohner), daß in dieser Beziehung die Truppen wesentlich günstigere
Verhältnisse antreffen würden.
Eisenbahnen und Wege
Zwei große Bahnlinien durchschneiden das Poljessje: in nordsüdlicher
Richtung die Linie Wilna - Rowno und in westöstlicher Richtung die Linie
Brest-Litowsk - Shabinka - Homel (zweigeleisig). Schnittpunkt beider
Strecken ist das 10 km nördlich des Pripet liegende Luninez.
Die südlichen Ausläufer des Poljessje durchschneidet die Linie Kowel -
Kijew, die bei Sarny die Strecke Wilna - Rowno kreuzt. An der nordöstlichen
Grenze des Poljessje verläuft die Linie Homel - Bobruisk (mit der südwestlich
verlaufenden Abzweigung Ossipowitschi- Uretschije) und an der westlichen
die Strecke Brest - Litowsk - Kowel.
In dem wegearmen, schwer gangbaren Poljessjegebiete kommt namentlich den
beiden zuerst erwähnten Bahnlinien eine ganz besondere militärische
Bedeutung zu. Sie allein ermöglichen Truppenverschiebungen größeren Maßstabs
in westöstlicher und nordsüdlicher Richtung und umgekehrt, und gewährleisten
eine Verbindung zwischen Polen und dem nordwestlichen Kriegsschauplatze
einerseits und den reichen Gebieten des Südens andererseits.
An Wegen ist das Poljessje, wie schon erwähnt, sehr arm, namentlich in
der Mitte und im Osten. Die einzige Chaussee, welche, das Gebiet aufweist,
ist die von Rowno auf Minsk führende, die bei Ljubasi den Pripet auf
einer Steinbrücke überquert.
Militärische
Bedeutung des Poljessje
Die hervortretendste militärische Bedeutung des Poljessje liegt in seiner
Eigenschaft als gewaltige Hinderniszone für den von Westen oder Süden
vorstoßenden Angreifer; damit ist zugleich auch seine Wichtigkeit als
Trennungsgebiet für aus Ostpreußen und aus Galizien gleichzeitig dem
Inneren Rußlands zustrebende Heereskörper gekennzeichnet. Das etwa die
Mitte der westlichen russischen Grenzlande einnehmende Poljessje
erleichtert Rußland die Verteidigung dieser Gebiete in hohem Maße, denn
seine Gegner sind zum Ausweichen in nördlicher und südlicher Richtung
gezwungen und die Möglichkeit des Zusammenwirkens dieser getrennten Teile
ist so gut wie ausgeschlossen.
Für das über das Poljessje nach Westen angriffsweise vorgehende
russische Heer liegen die Verhältnisse dagegen wesentlich günstiger,
denn solange sich die Poljessje-Bahnen in russischen Händen befinden, ist
wenigstens Verbindung und Nachschub möglich, wenngleich nur auf wenigen
Linien. Mit Hilfe dieser Bahnlinien können russischerseits
Truppenverschiebungen nach allen vier Himmelsrichtungen
durchgeführt werden und es erscheint deshalb eine Bedrohung von Flanke
und Rücken der auf Moskau wie auf Kijew vorrückenden feindlichen Heere
aus dem Poljessje heraus sehr wohl im Bereiche der Möglichkeit.
Daß sich das Poljessje selbst - mit Ausnahme des westlichsten Teiles -
infolge seiner natürlichen Beschaffenheit und der Ärmlichkeit seiner
Hilfsquellen weder zum längeren Aufenthalte starker Truppenmassen, noch
zur Durchführung groß angelegter Kämpfe eignet, wurde schon betont; um
so eher aber ist ein die rückwärtigen Verbindungen empfindlich
bedrohender Kleinkrieg denkbar.
Schon zweimal hat das Poljessje in der Kriegsgeschichte eine Rolle
gespielt. Kannenberg berichtet darüber: Als im Jahre 1706 die russische
Armee unter dem Feldmarschall Ogilwi bei Grodno stand, hatten die Schweden
die russische Rückzugsstraße nach Moskau in ihrem Besitz. Peter der Große
befahl nun Ogilwi, sich hinter das Poljessje zurückzuziehen und, mit
diesem Hindernis im Rücken, den Abmarsch auf Kijew einzuleiten. Die
Russen gelangten auch glücklich über Brest-Litowsk hinter das
Sumpfgebiet, während Karl XII. zur Verfolgung gegen Pinsk rückte, in dem
sumpfigen Waldlande aber nur sehr langsam vorwärts kam und seinen stark
erschöpften Truppen bei genannter Stadt eine mehrwöchige Erholungspause
gewähren mußte; inzwischen erreichte Ogilwi ungehindert Kijew.
Im Jahre 1812 stand anfänglich die 1. und die 2. russische Armee nördlich,
die 3. südlich des Poljessje. Die Anwesenheit dieser Armee veranlaßte
Napoleon, zur Deckung seiner rechten Flanke ein ganzes Korps zurückzulassen.
Schon im Juli gingen Teile der 3. russischen Armee durch den westlichen
Teil des Poljessje gegen den Rücken der Franzosen vor, sodaß sich
Napoleon nunmehr genötigt sah, zwei Korps gegen diese Truppen
abzuzweigen, worauf sich die Russen vor dem überlegenen Feinde wieder
hinter das Poljessje zurückzogen. Im Oktober ging die durch die 4. Armee
verstärkte 3. russische Armee von neuem über das Sumpfgebiet gegen die
Verbindungslinie der von Moskau zurückgehenden Franzosen vor, denen ein
vernichtender Schlag hätte beigebracht werden können, wenn Tschitschagow
an der Beresina glücklich gekämpft hätte. |