Allgemeiner Überblick über Russland in militär-geographischer Beziehung 

 

Das russische Heer

Die Gliederung des russischen Heeres, der größten Armee der Welt, ist aus der Anlage II ersichtlich. Die Militärbezirke St. Petersburg, Wilna, Warschau, Kijew, Odessa, Moskau, Kaukasus, Turkestan, Omsk, Irkutsk, Amur und das Militärgebiet Donland umfassen insgesamt 37 Armeekorps (hierunter 10 in Asien, nämlich 3 kaukasische, 2 turkestanische und 5 sibirische).
Als Friedensstärke ist (einschließlich der Grenzwache) 1345000 Mann berechnet worden, die Kriegsstärke (Feldtruppen und Reservetruppen) wird auf rund 2400000 Mann geschätzt. Hierzu kommen noch Festungs- und Ersatztruppen sowie die Reichswehr.
Diese wenigen Zahlenangaben mögen für vorliegende Zwecke genügen. Wichtiger erscheint mir, auch in einer kurzen militärgeographischen Beschreibung auf die Charakteristik des Heeres, auf die ihm eigentümlichen Vorzüge und Mängel des näheren einzugehen, denn die Kenntnis des fremden Landes muß ihre notwendige Ergänzung finden in dem Verständnis für die Armee dieses Landes.
Obwohl erst wenige Jahre verflossen sind, daß die in der Mandschurei kämpfende russische Armee die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich lenkte, und obgleich seit dieser Zeit eine reichhaltige Literatur über diesen Krieg entstanden ist, so sind doch die Ansichten über den wahren Wert der Armee vielfach noch wenig geklärt. Vielleicht liegt die Ursache in folgendem: die russische Armee wird fast regelmäßig mit westeuropäischem, meist deutschem Maßstab gemessen, anstatt mit russischem, oder mit anderen Worten: es wird übersehen, daß in der russischen Armee sehr vieles ganz anders geartet sein muß als bei uns. Es wird ferner vergessen, daß nur der ein Volksheer verstehen kann, der Kenntnis hat von dem Denken und Fühlen, von den ewig unverwischbaren Rassenmerkmalen der betreffenden Nation und daß im Grunde genommen jedes Studium einer fremden Armee nicht mit dieser, sondern mit dem Volke zu beginnen hat. Und welche Rätsel geben auf den ersten Blick Rußland und sein Volk dem Westeuropäer auf! Wir, die wir im gewohnheitsmäßigen Genüsse der Segnungen einer reichen, hochstellenden Kultur sind, fühlen zuerst in Rußland auf Schritt und Tritt etwas Fremdes, ganz anders Geartetes uns entgegentreten, bis uns die Ursache klar wird: wir sind aus einem Vollkulturland in ein Halbkulturland*) gekommen.
Diese einfache Wahrheit bildet den Schlüssel zum Verständnis und die Grundlage für eine gerechte Würdigung russischer Verhältnisse. Sie wird jene harten, vorschnellen Urteile nicht aufkommen lassen, die man leider nur zu oft bei uns zu hören Gelegenheit hat, und manche trübe Erscheinung im Zarenreiche wird nicht mehr unsere Entrüstung hervorrufen, ist sie doch für den aufmerksamen Beobachter nur die naturgemäße, folgerichtige Entwicklung der Dinge, die Frucht, die auf dem Boden der russischen Kultur, so wie sie zur Zeit noch ist, wachsen mußte!
Die Natur des Landes, seine geschichtliche Entwicklung und die teilweise mit beiden im Zusammenhang stehenden typischen Rassenmerkmale der Bewohner mußten Rußland zu dem machen, was es heute ist: ein an Größe gewaltiges, nach außen hin mächtiges Reich, das aber im Innern ganz erhebliche Mängel aufweist:
geringe Volksbildung, Aberglaube und Armut, Willkür der herrschenden, knechtische Gesinnung der dienenden Klassen, Mangel an stolzer, zu freier Tat strebender Arbeit, laxe Auffassung vieler ethischer Begriffe, wie Wahrheit, Pflichttreue usw. Neben diesen Schattenseiten sind aber auch viele Vorzüge zu verzeichnen: die echt russische Anspruchslosigkeit, die unbedingte Unterordnung, die Zähigkeit im Aushalten von Entbehrungen und Strapazen.
Alle diese Eigenschaften, die in der Masse des Volkes wurzeln, spiegeln sich im Heere wieder. Wir erkennen sie in dem tapferen, mit Hingabe an seinen Vorgesetzten hängenden, unendlich zähen und genügsamen russischen Soldaten, der überall dort Ausgezeichnetes geleistet hat, wo es galt, das Erreichte auch mit Aufopferung seines Lebens festzuhalten. Und die Mängel treten dort hervor, wo es sich um aktives, selbständiges, von der Schablone abweichendes Tun handelt. Hier versagen nicht nur die Mannschaften, sondern häufig auch die Offiziere niederen und höheren Grades. Die Ursache ist weniger in der mangelhaften Erziehung zu suchen, als in der ausgesprochen passiven Veranlagung. Der Russe ist seiner Natur nach kein Kämpfer, nicht nur im militärischen Sinne, auch dem harten Lebenskampf geht er gern aus dem Wege, er begnügt sich mit dem Dulden, wo andere von Ehrgeiz und Vaterlandsliebe aufgestachelte Nationen unwiderstehlich zum Handeln fortgerissen
*) Der in diesem Zusammenhange von Prof. Dr. Philippson gebrauchte Ausdruck "Halbkultur" kennzeichnet wohl am besten die eigenartige Mischung westeuropäischer Kulturelemente mit der altslavisch - asiatisch - byzantinisch gefärbten russischen Eigenart.

werden. Man sehe sich doch einmal die Helden in der russischen Literatur an! Sie wollen sicherlich das Gute, sind aber schwankend in ihren Zielen und verzichten daher gar bald auf jeden Versuch, das Schicksal zu meistern. So entsteht der echt russische Typ des "Überflüssigen", den Lermontow so wahr in seinem "Ein Held unserer Zeit" geschildert hat oder Tolstoi in "Krieg und Frieden", wo Pierre sich stets geduldig den Verhältnissen unterordnet, in der festen Überzeugung, "daß Alles nun einmal so sein müsse". - Wie leiden die Besten des Volkes unter diesem verhängnisvollen Charakterzug, sie leiden doppelt in der Erkenntnis, daß er ein unüberwindliches Hemmnis darstellt auf dem so notwendigen Wege der Fortentwicklung, daß er nie die volle Entfaltung all der unzweifelhaft vorhandenen reichen Kräfte zulassen wird!
Ganz richtig sagt Professor Gruber in seiner Wirtschaftlichen Erdkunde bei einem Vergleich zwischen England und Rußland, "daß es dem slavischen Riesenstaate an kulturfrohen, frisch und fröhlich strebenden Menschen fehlet wobei es selbstverständlich ist, daß sich bei einem 160 Millionen Volk auch zahlreiche Ausnahmen finden müssen. Dasselbe gilt auch für die Armee, die gewiß viele hervorragend tüchtige Offiziere zählt, welche gerade in Anbetracht der schwierigen Verhältnisse, in denen sie zu arbeiten gezwungen sind, Außerordentliches leisten. Aber durch die große Masse des Volkes und des Heeres geht doch der echt russische Zug des Sichbescheidens mit Mittelmäßigem, oft untermischt mit einem müden Zug von Resignation, es fehlt das gegenseitige Vertrauen, der ehrgeizige Drang nach frischer Betätigung und das andere Völker auszeichnende leidenschaftliche Streben, unter Überwindung von Hindernissen das Höchste zu gewinnen. - Wirklich Großes und Großzügiges haben die Russen bisher in ihrer Auslandspolitik geleistet, das Größte bleibt ihnen aber noch zu tun: ihr Vaterland endlich von den Fesseln der Halbkultur zu befreien, es zu einem seiner Größe würdigen modernen Staate umzugestalten. Bis diese langwierige Arbeit - die ja durch die Schaffung der Duma usw. schon erfolgreich angebahnt wurde - vollendet ist, werden weder der Staat in seiner Gesamtheit noch das Heer erstklassige, den neuzeitlichen Anforderungen genügende Leistungen hervorbringen können. Und ein modernes Heer verlangt erstklassige Arbeit auf geistigem und sittlichem Gebiete, volle, auf dem Boden der Pflichttreue wurzelnde Hingabe aller seiner Glieder. Nur ein solches Heer kann sich die Führer heranziehen, die der heutige Krieg verlangt, nur eine von diesem Geiste getragene Armee wird im Angriff den Sieg an ihre Fahnen fesseln. Daß die Russen hierzu noch nicht fähig sind, hat der mandschurische Krieg auch denen bewiesen, die etwas anderes erwartet haben. Der Boden ist noch nicht reif und es wäre unbillig, dort jetzt schon Vollendetes zu verlangen, wo nur Mittelmäßiges gedeihen kann. Ganz genau so, wie der russische Acker nicht voll ausgenutzt wird, weil die Ackergeräte veraltet sind, die rationelle Düngung und die vom Fortschritte getragene neuzeitliche Arbeitsmethode fehlt, so sind auch Staat und Heer heute noch rückständig, obwohl reiche Kräfte in ihnen schlummern.
Erst mit der geistigen und sittlichen Hebung des Volkes, erst mit der Fortentwicklung zum Vollkulturstaat wird Rußland über ein erstklassiges Heer verfügen.

 

Allgemeiner Überblick über Russland in militär-
geographischer Beziehung

1. Kurzer Überblick über Lage und Grenzen des Russ. Reiches
2. Bevölkerung
3. Verwaltung
4. Volkswirtschaft (Landwirtschaft, Viehzucht, Gewerbe, Industrie)
5. Verkehrswesen (Wasserstraßen, Landwege, Eisenbahnen)
6.
Das Russische Heer

 

Die russischen Grenzgebiete in ihrer Eigenschaft als
Kriegsschauplätze

Europäisches Rußland

1. Der vordere Kriegsschauplatz (Polen)
2. Der nordwestliche Kriegsschauplatz
3. Das Küstengebiet von Riga bis St. Petersburg
4. Finnland
5. Das Poljessje
6. Der südwestliche Kriegsschauplatz
7.
Das Küstenland des Schwarzen Meeres mit der Halbinsel Krim

Asiatisches Russland

8. Der Kaukasus 
9. Turkestan 
10. Ost-Sibiren (Trans-Baikalien, Amurgebiet und Küstengebiet)

 

HAUPTSEITE

Textquelle: 
Kurze militär-geographische Beschreibung Russlands
von L. Schmidt
Hauptmann und Kompagniechef im k. bayr. 7. Inf. Regt. Prinz Leopold
Militär-Verlag von Zuckerschwerdt & Co.
Berlin 1913