Die russischen Grenzgebiete in ihrer Eigenschaft als Kriegsschauplätze 

 

Europäisches Rußland

Der nordwestliche Kriegsschauplatz

Lage und Grenzen
Unter dem nordwestlichen Kriegsschauplatz ist das zwischen der ostpreußischen Grenze und der Düna gelegene Gebiet nördlich der Rokitnosümpfe zu verstehen. In Gestalt eines von Nordwesten nach Südosten in die Länge gezogenen Viereckes wird es begrenzt im Westen von der Ostsee und der Reichsgrenze bis zum Orte Raigrod, im Süden von der Linie Raigrod -  Grodno, dem Njemen mit seinem Nebenflusse Schara, sodann der Moskau - Brester Straße bis Rogatschew, im Osten und Norden vom Dnjepr bis Smolensk, der Straße nach Witebsk, der Düna bis zu ihrer Mündung und endlich dem Rigaischen Meerbusen. Seine Länge beträgt von Riga bis Rogatschew über 400 Werst, seine Breite von Slonim bis Rogatschew etwa 300 Werst. Innerhalb der vorstehend angeführten Grenzen umfaßt das nordwestliche Kriegstheater die Gouvernements Kurland, Kowno, Suwalki, Wilna und Teile der Gouvernements Grodno, Minsk, Mohilew, Witebsk und Livland.

Oberflächengestalt
Das Gebiet trägt im allgemeinen den Charakter einer weiten, von Norden nach Süden ganz leicht abfallenden Ebene. Nur an zwei Stellen wird sie von schwachen Höhenzügen unterbrochen: im Süden in der Gegend zwischen Wilna und Minsk, und ferner in der Nähe von Suwalki; es sind in beiden Fällen Teile des westrussischen Landrückens. Eine Bedeutung als Hindernislinien im militärischen Sinne kommt diesen Höhen in keiner Weise zu.

Die Nordgrenze an der Ostsee und am Rigaischen Meerbusen
Die die Nordgrenze bildende Meeresküste ist im Gegensatz zu nördlich gelegenen felsigen Westküste Finnlands, wo unzählige Inseln und Klippen (Schären) die Schiffahrt behindern, flach und von einfachster Gliederung. Fast überall ist eine Landung mit kleineren Fahrzeugen möglich, mit großen Kriegsschiffen jedoch nur in den Häfen von Riga, Windau und Libau, denn dem übrigen Küstensaume
sind meist Sandbänke vorgelagert, die in einer Breite von 1½ bis 3 km das Herankommen tiefgehender Fahrzeuge verhindern. Landeinwärts erstrecken sich hinter den Dünenreihen, die zahlreiche Tümpel aufweisen, ausgedehnte Eichenforste mit häufig sumpfigem Untergrund. So bietet der Küstenstrich im allgemeinen keine günstigen Vormarschverhältnisse für feindliche an der Ostsee gelandete Truppen. Riga ist im Norden durch die an der Einmündung der Düna in den Rigaischen Meerbusen gelegene Festung 3. Klasse Ust-Dwinsk (Dünamünde) geschützt und im Westen durch das zwischen der 800 m breiten Düna und der Kurländischen Aa gelegene Sumpfgebiet. Libau ist Festung 1 . Klasse und Kriegshafen, der in milden Wintern ebenso wie der Windauer Hafen überhaupt nicht vereist, während der Hafen von Riga gewöhnlich 4 Monate durch Eis gesperrt ist. Nach russischer Ansicht ist bei einem Kriege mit Deutschland damit zu rechnen, daß dieses sich in erster Linie bemühen wird, Libau, Windau und Riga in die Hand zu bekommen, um die dortigen großen Depots und Ausgangspunkte in das Innere zu gewinnen. Mit feindlichen Unternehmungen von der See her rechnet man vor allem bei Riga, denn bei den anderen beiden Städten sei in Anbetracht der Nähe der Grenze ein Angriff zu Lande wahrscheinlicher.

Flüsse
Der Njemen entspringt südwestlich von Minsk, durchquert zuerst in westlicher, dann nördlicher, endlich nordwestlicher Richtung - das ganze Kriegstheater und tritt bei Sudargi auf deutsches Gebiet über, wo er als Memel der Ostsee zuströmt. Innerhalb des russischen Gebietes wechselt die Breite des Flusses zwischen 40 und 400 in, die Tiefe von 0,50-6 m. Mitte Dezember friert der Njemen in der Regel zu und taut Anfang April wieder auf. Im Frühjahr überschwemmen die Wassermassen weithin beide Ufer, nicht selten bis zu einer Breite von 8 km, so daß Brückenschläge während dieser Zeit ausgeschlossen erscheinen. In seinem Oberlauf etwa bis zur Einmündung der westlichen Beresina*) hat der Njemen so unbedeutende Breite und Tiefe, daß er kaum als militärisches Hindernis angesehen werden kann. Der nächste, bis zur Einmündung der Schara reichende Abschnitt kommt - je nach der Jahreszeit - schon als ernstliches

*) Zum Unterschied von der aus dem Krieg 1812 berühmt gewordenen, dem Dnjepr zuströmenden Beresina nennen wir diesen Nebenfluß des Njemen die westliche Beresina.

Hindernis in Betracht; er erreicht hier eine Breite von 100-200 m bei einer Tiefe von 2-4 m. (Die östliche Verlängerung dieses Abschnittes bildet die in einem waldigen Sumpfgelände dahinfließende westliche Beresina.) Der Fluß wird nun auf seinem Wege gegen Grodno etwas schmäler, das Ufergelände hin und wieder steil. Gerade diese Flußstrecke im Verein mit der sich südostwärts anschließenden Schara mit ihren versumpften ungangbaren Ufern ist von wesentlicher Bedeutung, denn sie sperrt alle von Bjelostok und Brest-Litowsk heranführenden Wege. Der wichtigste, der deutschen Grenze gleichlaufende Abschnitt ist der zwischen Grodno und Kowno. Der hier tief eingeschnittene Njemen verlegt dem aus Ostpreußen kommenden Angreifer den Weg auf Minsk - Moskau und auf Wilna-Petersburg. Als starker rechter Flügelstützpunkt dient die Festung 1. Klasse Kowno, der sich weiter stromaufwärts an den wichtigen Übergangspunkten bei Olita und Grodno sowie bei Meretsch behelfsmäßige Befestigungen anschließen. Als Flankensicherung des zuletzt genannten Stromabschnittes kann die bei Kowno in den Njemen einmündende Wilja angesehen werden, die allerdings wegen ihrer festen Ufer und der nicht bedeutenden Breite und Tiefe nur den Wert eines recht fragwürdigen Hindernisses besitzt, das freilich, wie fast alle russischen Wasserläufe, zur Zeit der Frühjahrsüberschwemmungen sich wohl in ein ernsthaftes verwandeln kann. Dem letzten Njemenabschnitt - von Kowno bis zur preußischen Grenze - kommt ebenso wie dem letzten Weichselabschnitt auf russischem Boden nur eine untergeordnete Bedeutung zu, denn wie dort die Weichsel so verliert hier der Njemen dank seiner nordwestlichen Richtung seinen Charakter als Stromschranke in der wichtigsten Operationsrichtung. Der Vergleich zwischen Njemen und Weichsel liegt im übrigen sehr nahe, denn es besteht tatsächlich eine große Ähnlichkeit zwischen der starken Hindernislinie Kowno - Grodno (mit den beiden Flankensicherungen Wilja und Schara - Njemen) und dem wichtigen Weichselabschnitt Nowogeorgijewsk - Warschau - Iwangorod (mit den Flankensicherungen des Narew-Bug und Narew im Norden und. des Wjeprsch im Süden) - auch hinsichtlich der künstlichen Verstärkung. Beide Räume hinter Njemen und Weichsel gewähren den Russen ausgezeichnete Versammlungsgebiete mit sehr stark verteidigungsfähigen Rändern, wenn auch in dieser Beziehung die Wilja dem Narew-Bug und Narew beträchtlich nachsteht.
Schiffbar wird der Njemen schon bald in seinem Oberlauf, nördlich von Baranowitschi. Brücken befinden sich bei Ruda, Mosty, Grodno (2), Olita und Kowno (2). Die durch den Oginskikanal mit der Jassiolda verbundene Schara wird von Tschemely an schiffbar und bildet trotz geringer Breite und Tiefe wegen ihres sumpfigen, unwegsamen Ufergeländes ein beträchtliches Hindernis. 
Auch die östliche Beresina (Nebenfluß des Dnjepr) wird durch einen breiten Sumpfgürtel auf beiden Ufern geschützt, außerdem erreicht sie schon von der Einmündung des Beresinakanals ab, wo sie schiffbar wird, eine ansehnliche Breite, die bei Bobruisk 200 m erreicht. Südlich von Nishnij - Beresino nehmen die Sumpfstrecken gewaltige Ausdehnung an; so wird das freie zwischen den Oberläufen des Dnjepr und der Düna liegende Gelände westlich von Smolensk, über das die wichtigen Verbindungen nach Moskau laufen, in wirksamer Weise durch das Beresinahindernis gesperrt, das schon zweimal in der Kriegsgeschichte eine Rolle gespielt hat. 1708, als Peter der Große hinter dem befestigten Übergang von Borissow den Angriff Karls XII. erwartete, der hierdurch zu einer mühsamen ausholenden Bewegung über Nishnij - Beresino gezwungen wurde und ferner 1812, wo die Franzosen wohl im Marsche auf Moskau den Flußübergang bei Werchnij - Beresino, Borissow und Nishnij - Beresino unbehindert bewerkstelligten, bei ihrem Rückzug im November jedoch die einzige Brücke bei Borissow gesperrt fanden und gezwungen waren, sich unter ungeheuren Verlusten weiter nördlich - bei Studianka - auf zwei mit großen Schwierigkeiten hergestellten Holzbrücken den Übergang zu erkämpfen. 
Brücken führen über die Beresina bei Tscherniza, Werchnij Beresino, Borissow (2) und Bobruisk. 
Den östlichen Abschluß des Kriegsschauplatzes bildet der Dnjepr in seinem Oberlaufe von Smolensk bis Rogatschew. Schon bald hinter Smolensk, bei Orscha wird er bei einer Breite von 50 und einer Tiefe von 2 m schiffbar, sodaß er bereits hier ein beträchtliches Hindernis darstellt. Von Schklow an nimmt die Breite des Flusses bedeutend zu, das westliche Ufer lehnt sich an schwer durchschreitbares Waldgelände an, Brücken und Furten sind nicht vorhanden. Die günstigsten Übergangsverhältnisse sind auf der Strecke Orscha - Schklow anzutreffen. 
Die Düna (von den Russen westliche Dwina genannt), welche die auf St. Petersburg führenden Wege sperrt, kann in ihrem ganzen hier in Betracht kommenden Verlaufe als Hindernis ersten Ranges angesehen werden. Bald hinter Witebsk erreicht sie eine Breite
von 180, eine Tiefe von 3 m, bei Dwinsk (Dünaburg) 280 und 6 m. Bis über Dwinsk hinaus - bis zur Einmündung des Laakases -sind die Ufer im allgemeinen trocken, im weiteren Verlaufe treten häufig Sumpfstrecken heran, auch eine große Menge von Weihern und kleinen Seen erschwert in der Gegend westlich von Dwinsk die Annäherung. Bei Riga erreicht die Düna die stattliche Breite von 800 m; sie ist hier durchschnittlich 125 Tage im Jahre von Eis bedeckt. Brücken sind vorhanden: bei Witebsk, Polozk, Dwinsk (2), Kreuzburg und Riga (2). 
Am linken Dünaufer darf wegen seiner zahlreichen Sümpfe und Weiher am ungangbarsten angesehen werden das Stück zwischen Düna, Kurländischer Aa und Laakase. Denselben Charakter besitzt das Ufergelände der zwischen Polozk und Dwinsk einmündenden Dissna. Die einzige von Tilsit nach Riga führende Chaussee überquert bei Mitau. (Mitawa) die Kurländische Aa. Der hier etwa 100 m breite Fluß schützt mit seinem versumpften rechten Ufer Riga sehr wirksam gegen einen Angriff von Westen.

Sümpfe und Seen. 
Außer den bei Beschreibung der Flußläufe schon erwähnten Sumpfstrecken finden sich kleinere, oft mit Wäldern bestandene Sümpfe in großer Anzahl im ganzen Kriegsschauplatze vor; ein größeres Sumpfgebiet liegt in dem Dreieck Orscha - Smolensk - Witebsk. Auch an kleineren und größeren Seen ist das Gebiet reich, besonders im Gouvernement Kowno, namentlich aber in dem Streifen Suwalki - Wilna - Dwinsk (Fortsetzung der Masurischen Seenplatte). 

Wälder
Mehr als ein Drittel der Oberfläche ist mit Wald bedeckt. Besonders der Südosten zeichnet sieh durch Waldreichtum aus, wo im Flußgebiete des Dnjepr, der östlichen Beresina und des Ptitsch ungeheure, zum Teil sumpfige, Waldstrecken die nördliche Fortsetzung des Poljessje bilden und breite Hinderniszonen darstellen. Größere Waldgebiete liegen ferner nordöstlich von Bjelostok, dann am linken Njemenufer bei Grodno und Kowno und endlich an der deutschen Grenze zwischen Jurburg und Polangen.

Klima. 
Infolge der langgestreckten Lage des Kriegsschauplatzes (über 700 km von Nordwest nach Südost) und der Verschiedenartigkeit seiner Begrenzungen: im Nordwesten das Meer und im Süden und Südosten das ungesunde Poljessje, müssen auch die klimatischen Verhältnisse innerhalb des Gebietes ungleichartig sein. So ist der Frühling in den am Meer gelegenen Bezirken trocken und kalt, während er in den südöstlichen Gegenden sehr viel Regen bringt. Der Sommer, dessen Dauer bis Ende September gerechnet wird, weist überall hohe Temperaturen auf; in den Gouvernements Suwalki, Wilna und Minsk sind außerdem in der Regel heftige und langandauernde Regenperioden zu verzeichnen. Der Herbst, bis Anfang Dezember, ist in den westlichen Bezirken die regenreichste Jahreszeit. Die Dauer des Winters nimmt naturgemäß nach Nordwest zu (so berechnet man die Frostperiode in Kurland bereits auf 110 Tage). Im übrigen zeichnet sich gerade der Winter durch Unbeständigkeit aus und die Benutzungsdauer der Schlittenwege wechselt von wenigen Wochen bis zu vier Monaten. Im allgemeinen kann man jedoch die klimatischen Verhältnisse vom militärischen Gesichtspunkte aus nicht gerade als ungünstig bezeichnen; sie ermöglichen in der Regel während eines Zeitraumes von 5 Monaten das Biwakieren. Schlecht sind sie nur in den an das Poljessje mit seinem feuchten, ungesunden Klima angrenzenden Bezirken, sowie den ähnliche Eigenart aufweisenden Landstrichen mit vorherrschendem Sumpfgebiete.

Bevölkerung
Die Bevölkerungsdichte im nordwestlichen Kriegsschauplatz ist mit 45 Köpfen auf die QW fast halb so groß als in den Weichselprovinzen und mehr als doppelt so groß als im gesamten Europäischen Rußland. Am dichtesten ist bevölkert der Westen , am schwächsten der Südosten und der äußerste Nordwesten. 
Nur etwa 13 % der Bevölkerung leben in Städten, deren wichtigste sind: Riga 283 000 Einwohner, Wilna 163 000 Einwohner, Minsk 91000 Einwohner, Kowno 74 000 Einwohner, Dwinsk und. Witebsk je 66 000 Einwohner und Smolensk 57 000 Einwohner. 
Auf etwa 4 QW trifft im Durchschnitt eine Ortschaft; in Kurland und im Gouvernement Suwalki wird diese Ziffer überschritten, dagegen im Süden und Osten häufig nicht erreicht. Die Dörfer sind im allgemeinen klein: etwa 11 Höfe durchschnittlich, wobei auf den Hof 9 Einwohner treffen. 
Ebenso wie in Polen sind auch im nordwestlichen Kriegsschauplatz die Ortschaften recht wenig geeignet zur Unterbringung von Truppen; die ärmlichen, engen und unsauberen Hütten, von welchen viele nicht einmal einen Kamin besitzen, werden nur bei großer Ungunst der Witterung dem Biwak vorgezogen werden. Verhältnismäßig am besten ist die Unterkunft bei den in Kurland ansässigen deutschen Kolonisten und den Letten. 
Günstige Unterkunftsverhältnisse bieten die Städte und, Vorstädte - mit Ausnahme der Häuser der Juden - sowie die vielen im Gebiete vorhandenen Kasernen und sonstigen militärischen Gebäulichkeiten. Die Bevölkerung des Kriegsschauplatzes ist bunt gemischt; nur etwa 44 % sind Russen (und zwar zum größten Teil Weißrussen), dann folgen die 

Letten und Littauer mit 31%,
Juden mit 15 %, 
Polen mit 8 %, 
Deutschen mit 2 %

Die Russen bilden den Hauptteil der Bevölkerung in den Gouvernements Wilna, Minsk, Grodno, Mohilew und Witebsk; in den übrigen sind sie nur spärlich vertreten. 
Die zu den Slaven im weiteren Sinne gehörenden Letten und Littauer sind im Nordwesten und Westen ansässig und zwar die Letten vorwiegend in Kurland und im östlichen Teil des Gouvernements Kowno, während die Littauer, untermischt mit Russen, in den Gouvernements Wilna und Witebsk anzutreffen sind. Die Deutschen, vorzugsweise Guts- und Fabrikbesitzer sowie Kaufleute, sind über das ganze Gebiet verstreut; eine besonders wichtige Rolle spielen sie in Kurland und im Gouvernement Sawalki. Die Polen endlich überwiegen in den südwestlichen Bezirken. Aus vorstehendem erhellt, daß die nichtrussische Bevölkerung im Westen und Norden an Zahl und Bedeutung nicht gering anzuschlagen ist und daß Rußland im Falle eines Krieges mit einer  nicht zu unterschätzenden Zahl von wenig zuverlässigen oder gar russenfeindlichen Elementen gerade in diesen Grenzbezirken rechnen muß.


Bodenerzeugnisse
 Von der Bodenfläche des Gebietes sind 13 % unproduktiv, es liegen also günstigere Verhältnisse vor als im Durchschnitt für Gesamtrußland (19 % unproduktiv). 
Von den verbleibenden 87 % entfallen auf: 

Acker- und Gartenland etwa 21 %, 
auf Wiesen und Weiden etwa 28 %  und auf 
Wälder etwa 38 %. 

An Getreide wird hauptsächlich Roggen und Gerste gebaut, auch der Anbau von Kartoffeln steht in erster Linie. Obwohl namentlich in den westlichen Bezirken häufig eine bessere Bodenausnutzung stattfindet als sonst vielfach im übrigen Rußland, ist dennoch die einheimische Bevölkerung zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse an Getreide, namentlich Weizen, auch auf die Zufuhr angewiesen; nur in Kurland ist Überschuß vorhanden. Die Erträgnisse der Wiesen und Weiden dagegen genügen vollauf für den einheimischen Viehstand, der sehr bedeutend ist (auf 100 Einwohner etwa 30 Stück Hornvieh, 29 Schafe und 15 Schweine). Nach Anzahl und Güte überwiegen auch hier die nordwestlichen, Landstriche gegenüber den östlichen. Auch die Pferdezucht ist sehr entwickelt: auf 100 Einwohner etwa 17 Pferde, meist Zugpferde; Reitpferde sind hauptsächlich bei den Gutsbesitzern anzutreffen. Im Kriegsfalle können die Truppen in diesem Gebiete mithin wohl genügend Schlachtvieh und Vorspannmittel aufbringen, die Versorgung mit Getreide dagegen ist unzureichend. Handel und Gewerbe befassen sich in erster Linie mit der Verarbeitung und dem Absatz der natürlichen Erzeugnisse des Heimatgebietes. Mühlen und Branntweinbrennereien sind genügend vorhanden, dazu treten Leder- und Stärkefabriken, im Südosten auch Sägemühlen. In Riga, nach St. Petersburg der größte Ausfuhrhafen an der Ostsee, entfaltet sich eine rege Gewerbetätigkeit (Maschinen-, Wolle- und Papierfabriken); an nächster Stelle steht Libau mit seinen mechanischen Werkstätten und Dampfmühlen.

Eisenbahnen. 
Von den Bahnlinien, die den Kriegsschauplatz in westöstlicher Richtung durchqueren, sind von besonderer Bedeutung: 
1. die von Königsberg über Wirballen führende Linie Kowno - Wilna - Dwinsk (zweigeleisig) nach St. Petersburg, 
2. die Linie Warschau - Lida - Polozk (zweigeleisig) nach St. Petersburg, 
3. die Linie Warschau - Brest-Litowsk - Baranowitschi - Minsk - Smolensk (zweigeleisig) nach Moskau. 
Die Linie 1 ist auch durch eine zweigeleisige Bahn über Grodno - Bielostok mit Warschau verbunden. Die vorerwähnten Linien stellen die Hauptverbindung zwischen Deutschland und den beiden russischen Hauptstädten dar; da sie außerdem das wichtige polnische Kriegstheater mit St. Petersburg und Moskau verknüpfen, kommt ihnen eine außerordentliche strategische Bedeutung zu. Außer diesen von West nach Ost bzw. Nordost verlaufenden. Schienensträngen ist als Querverbindung von Wichtigkeit die am
rechten Dünaufer von Smolensk über Witebsk  nach Riga führende Bahn mit ihren Abzweigungen von dieser Stadt nach Windau, Libau und (über Marawjewo) Koschedary bei Kowno. Die übrigen Querverbindungen sind: Marawjewo - Schawli - Ponewijesch - Dwinsk und Ponewijesch - Swjenzany - Bereswetsch; dann von Nowowileisk (bei Wilna) über Molodetschno nach Minsk (im weiteren Verlauf nach Gomel) und Wilna - Lida - Baranowitschi, zweigeleisig (weiterhin nach Luninez - Rowno). 
Die wichtigsten Knotenpunkte sind Wilna und Baranowitschi (Standort dreier Eisenbahnbataillone). 
Im ganzen hier in Betracht kommenden Gebiete überschreitet nur eine Bahn die deutsche Grenze: die über Wirballen; dagegen führt ziemlich nahe an die deutsche Grenze heran die fast im Halbkreis von Grodno über Sawalki und Olita nach Orany laufende Strecke. 
Die militärische Bedeutung vorerwähnter Bahnlinien für Rußland läßt sich in folgendem kurz zusammenfassen: sie gewähren 
a) bei einem offensiven Vorgehen Rußlands gegen Westen gute Verbindungen aus dem Inneren des Reiches heraus, 
b) desgleichen günstige Verbindungen für eine Versammlung in den Weichselprovinzen, sei es in offensiver oder defensiver Absicht, 
e) nach einem durch die Festungen unterstützten Kampf um Zeitgewinn in Polen Rückzugslinien in das Innere, 
d) Ausnutzung der Hilfsquellen des reichen Südens durch die von dort heranführenden Querverbindungen, 
e) Schutz der Ostseeküsten durch die nach Riga, Windau und Libau führenden Bahnen, 
f) gute Querverbindungen hinter den großen Verteidigungsabschnitten des Njemen und der Düna.

Straßen. 
Im Vergleich zu Polen ist das Straßennetz, wenn man von Kurland absieht, wenig entwickelt; die Beschaffenheit der Wege wird in vielen Bezirken ungünstig beeinflußt durch den lehmigen Untergrund, namentlich ist dies im mittleren Teil des Kriegsschauplatzes der Fall. Die wichtigsten Chausseen sind: 
1. Tauroggen - Schawli - Mitau - Riga, 
2. Wirballen - Kowno - Dwinsk, 
3. Brest-Litowsk - Bobruisk - Rogatschew, 
4. Witebsk - Mohilew (weiterhin nach Gomel und Kijew).

Die von der Bodenbeschaffenheit und der Jahreszeit sehr abhängigen Verbindungswege sind am besten in Kurland und im nordwestlichen Teil des Gouvernements Kowno (häufig steiniger Untergrund), dann in der hügeligen Gegend um Minsk, wo die Bodendecke vielfach Sand aufweist, während in den übrigen Teilen der Lehmboden die Güte häufig sehr beeinträchtigt.

Befestigte Plätze.
Am rechten Flügel des wichtigsten Njemenabschnittes, an der Einmündung der Wilna, liegt die Festung 1. Klasse Kowno, etwa 60 Werst von der deutschen Grenze entfernt. Sie sperrt die dortigen über den Njemen und die Wilja führenden Übergänge, gestattet Unternehmungen gegen die Flanke der nördlich oder südlich von Kowno vorrückenden feindlichen Armeen und bildet einen Rückhalt bei Offensivbewegungen.
Weitere Sicherungen an anderen wichtigen Übergangsstellen über den Njemen sind die behelfsmäßigen Befestigungen von Olita, Meretsch und Grodno. Die aufgelassenen Festungen Bobruisk an der Beresina und Dünaburg gewähren den dortigen Depotplätzen immerhin noch einen gewissen Schutz.
Riga mit seinem wichtigen Hafen wird durch die 17 Werst entfernte Festung 3. Klasse Ust-Dwinsk (Dünamünde) geschützt und auch Libau besitzt ständige Festungsanlagen, die jedoch in nächster Zeit aufgelassen werden sollen.

Militärische Bedeutung des Kriegsschauplatzes.
Wie schon bei Betrachtung des polnischen Kriegsschauplatzes erwähnt, wird Rußland beim Ausbruch eines Krieges mit Deutschland und Österreich oder mit jenem allein anfänglich aller Voraussicht nach auf die Offensive verzichten müssen - im Hinblick auf den Vorsprung, den seine Gegner nach Lage der Verhältnisse sicher erreichen werden. Schon ein Vergleich des russischen und deutschen Eisenbahnnetzes läßt dies klar erkennen.

Trotzdem sich Rußland mithin im ersten Zeitabschnitt des Krieges in Polen wie im nordwestlichen Kriegsschauplatz defensiv verhalten wird, rechnet man russischerseits doch nicht damit, daß Deutschland den Feldzug mit einer entscheidenden Offensive lediglich auf Wilna eröffnen werde, da bei einem solchen Vorgehen die durch Ostpreußen vorstoßende deutsche Armee aus den Weichselprovinzen heraus empfindlich in Flanke und Rücken bedroht wäre. Selbst bei einem gleichzeitigen Angriff auf Polen wird dies vielleicht der Fall sein, denn die schon im Frieden in den Weichselprovinzen versammelten russischen Streitkräfte sind so beträchtlich, daß für oben erwähnten Zweck genügend Truppen verfügbar bleiben würden. Man glaubt daher, daß Deutschland als erstes und wichtigstes Angriffsziel Polen betrachten werde, zur raschen Entscheidung dorthin seine Hauptkräfte einsetzen und gegen den nordwestlichen Kriegsschauplatz - etwa gegen die Linie Kowno - Grodno - vorerst nur demonstrieren wird. Erst dann, nach der Eroberung der Weichselprovinzen, wenn das deutsche Heer den Vormarsch auf St. Petersburg oder Moskau einschlägt, muß das nordwestliche Kriegstheater der Schauplatz großer Entscheidungskämpfe werden, bei denen man sich russischerseits viel von der schon erwähnten Verteidigungszone Wilja - Kowno - Grodno - Njemen - Schara verspricht. Die starke Verteidigungsfähigkeit des Gebietes mit seiner Masse von Sümpfen, Weihern, ungangbaren Wäldern und den im Frühjahr das Umgelände weithin unter Wasser setzenden Flüssen wird überhaupt stark betont. Der Gedanke an eine russische Offensive tritt umsomehr zurück-, als man gleich bei Ausbruch des Krieges auch mit einer feindlichen Bedrohung von der See her rechnet. Auch aus anderen Gründen ist ein russischer Angriff vom mittleren Njemen her auf Ostpreußen wenig wahrscheinlich: im Süden sperrt die Feste Boyen die Zugangswege durch die Masurische Seenplatte und im Norden verwehrt die große Festung Königsberg ein weiteres Vorgehen. Sehr erschwerend für den ins Njemengebiet eingedrungenen siegreichen deutschen Angreifer ist der Umstand, daß zur Einrichtung der rückwärtigen Verbindungen nur eine einzige Bahnlinie - über Wirballen - zur Verfügung steht.

 

Allgemeiner Überblick über Russland in militär-
geographischer Beziehung

1. Kurzer Überblick über Lage und Grenzen des Russ. Reiches
2. Bevölkerung
3. Verwaltung
4. Volkswirtschaft (Landwirtschaft, Viehzucht, Gewerbe, Industrie)
5. Verkehrswesen (Wasserstraßen, Landwege, Eisenbahnen)
6. Das Russische Heer

 

Die russischen Grenzgebiete in ihrer Eigenschaft als
Kriegsschauplätze

Europäisches Rußland

1. Der vordere Kriegsschauplatz (Polen)
2.
Der nordwestliche Kriegsschauplatz
3. Das Küstengebiet von Riga bis St. Petersburg
4. Finnland
5. Das Poljessje
6. Der südwestliche Kriegsschauplatz
7.
Das Küstenland des Schwarzen Meeres mit der Halbinsel Krim

Asiatisches Russland

8. Der Kaukasus 
9. Turkestan 
10. Ost-Sibiren (Trans-Baikalien, Amurgebiet und Küstengebiet)

 

HAUPTSEITE

Textquelle: 
Kurze militär-geographische Beschreibung Russlands
von L. Schmidt
Hauptmann und Kompagniechef im k. bayr. 7. Inf. Regt. Prinz Leopold
Militär-Verlag von Zuckerschwerdt & Co.
Berlin 1913