Allgemeiner Überblick über Russland in militär-geographischer Beziehung 

 

Bevölkerung

Am l. Januar 1910 betrug die Einwohnerzahl des Russischen Reiches 160114700, was gegen die Zahlung von 1897 eine Zunahme von rund 33 Millionen oder 26% bedeutet. Diese 160 Millionen Bewohner verteilen sich folgendermaßen:

116 505 000 im Europäischen Rußland
11 671 800 in Polen
11 392 400 in Kaukasien
7 878 500 in Sibirien
9 631 300 in Zentralasien und
3 015 700 in Finnland.

Durchschnittlich treffen im ganzen Reiche 8,3 Einwohner auf eine QW; im Gouvernement Irkutsk sinkt der Bevölkerungsdurchschnitt auf 0,1 Einwohner auf eine QW, in Archangelsk auf 0,5, steigt dagegen auf 166,6 im polnischen Gouvernement Petrokow.
Die am dichtesten bevölkerten Gouvernements des eigentlichen Europäischen Rußlands sind Podolien mit 97,6 Einwohnern, Moskau mit 96,3, Petersburg mit 69,8, Charkow mit 65,1 und Tula mit 63,3 Einwohnern auf eine QW. Von den sibirischen Gouvernements ist das von Tomsk mit 4,2 auf eine QW das am dichtesten bevölkerte, in Trans-Baikalien und Tobolsk sinkt diese Ziffer auf 1,5. In Zentralasien schwankt die Dichte von 19,1 in der Provinz Samarkand und 15,1 in Ferghana bis zu 0,8 in Transkaspien.*)
Wie dünn Rußland bevölkert ist, läßt folgende Gegenüberstellung erkennen: das Russische Reich beträgt 1/3 des ganzen Festlandes, die Bevölkerung dagegen nur 1/15 der Gesamtbevölkerung der Erde. Allerdings ist im Vergleiche zu anderen Ländern die Stadtbevölkerung sehr gering; sie beläuft sich auf nur 13 % (in Deutschland 57%, in Frankreich 59% und in England sogar 87%). Freilich vollzieht sich in manchen Gebieten, so namentlich in den westlichen Gouvernements, dank der zunehmenden industriellen Entwicklung allmählich eine Wandlung zugunsten der Städte.
Die geringe Bevölkerungsdichte erschwert in hohem Grade die Unterbringung großer Truppenmassen; nach dieser Richtung liegen in Rußland im Vergleiche zu anderen Ländern besonders ungünstige Verhältnisse vor, denn die geringe Anzahl der Städte und das meist sehr weitmaschige Netz der übrigen bewohnten Punkte zwingt die Truppen, die unter Dach und Fach unterkommen wollen, zu weiten Märschen und zum Zerreißen der Verbände - schlimmer noch aber als die vergleichsweise geringe Zahl der Siedlungen ist meist ihr Zustand, der oft nicht nur keine Bequemlichkeit bietet, sondern häufig infolge grenzenloser Verwahrlosung geradezu gesundheitsschädlich ist.
Im Durchschnitt treffen auf eine Ansiedlung (Dorf) etwa 220 Bewohner, in den einzelnen Gebieten des Reiches werden aber die verschiedensten Verhältnisse angetroffen. Die größten Dörfer (mehr als 450 Einwohner) liegen im südrussischen Steppengebiet sowie in den Wolga- und Uraldistrikten, dann folgen mit 3-400 Einwohnern die Dörfer Kleinrußlands, des Südwestens und des mittleren Schwarzerdebezirkes; in der Moskauer Gegend haben die Ansiedlungen nur etwa 150-160 Einwohner und besonders klein (bis zu 20 Einwohnern) sind sie in den Baltischen Gebieten und in Finnland.
Je größer die Dörfer, desto weiter liegen sie im allgemeinen von einander entfernt; im Durchschnitt kommt auf 32 QW nur eine Ansiedlung.
Da es für die Unterbringung nicht ohne Belang ist, wie viele Einwohner durchschnittlich auf einen Hof treffen, so mögen hier einige Angaben folgen:
Im allgemeinen treffen im Europäischen Rußland 8 Menschen auf einen Hof; besonders eng wohnen die polnischen Bauern.
*) Größtenteils nach Angaben in der Geographischen Zeitschrift, Januarheft 1911.

(11-13 Einwohner) und die der Gouvernements Moskau, St. Petersburg und Kowno (8-10 Einwohner), bequemere Verhältnisse sind dagegen anzutreffen in den Gouvernements Nowgorod, Pskow und Smolensk sowie im Flußgebiet der oberen Wolga.
Das russische Bauernhaus ist aus Holz gebaut und meist wenig geräumig; in vielen Gegenden, so in Polen und namentlich in Weißrußland, sind die kleinen, ärmlichen Behausungen oft in einem unbeschreiblich verwahrlosten Zustande, der den einfachsten Anforderungen der Hygiene Hohn spricht und die Truppen häufig veranlassen wird, bei günstiger Witterung auf die Ortsunterkunft zu verzichten und das Biwak vorzuziehen.
Die Bevölkerung Rußlands ist nach ihrer Abstammung durchaus nicht einheitlich, sondern stellt ein buntes Völkergemisch dar, in dem allerdings die Russen weitaus überwiegen.
Sie bilden mit etwa 100 Millionen rund 2/3 (66%) der Gesamtbevölkerung, im Europäischen Rußland (ohne Polen und Finnland) 80 %, im Kaukasus 34 %, in Sibirien 81 %, im Steppengebiet und in Turkestan 9 %, in Polen 7 % und in Finnland nur 0,2 %.
Die Russen teilen sich wieder in Großrussen (66,5 %), Kleinrussen (26,5 %) und Weißrussen (7 %).
Die Großrussen, ein Mischvolk von Slaven und Finnen, wohnen in Mittel-, Nord- und Ostrußland westlich bis Smolensk, südlich bis Kursk und Woronesh hin. "Mit ihrem konservativen Sinn, ihrer orientalischen Unterwürfigkeit und ihrer opfermutigen Hingabe an den Zaren und die Kirche, aber auch ihrem Mangel an selbständigem Denken und tatkräftigem Handeln sind sie die Hauptträger des absolutistischen russischen Staatsgedankens und seiner militärischen Macht, aber auch seiner sozialen und wirtschaftlichen Rückständigkeit." (Philippson.)
Im Gegensatz zu den schwerfälligen, verschlossenen Großrussen sind die den Süden bewohnenden Kleinrussen von lebhafterem, tätigerem Geiste; sie leben hauptsächlich in den Gouvernements Charkow, Poltawa, Kijew, Tschernigow, ferner in Wolynien, Podolien, Bessarabien, Ghersson, Taurien.
Die Weißrussen endlich stellen die unvermischtesten Slaven dar, zugleich aber auch den kulturell zurückgebliebensten und ärmlichsten Stamm; sie wohnen in den Gouvernements Mohilew, Wilna, Minsk und Smolensk.
Der Zahl nach folgen den Russen die Völker turko-tatarischer Abstammung, die mit rund 16 Millionen etwa 11% der Gesamtbevölkerung bilden. Ihre Wohnsitze sind namentlich im mittelasiatischen Gebiete, wo sie etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachen. Von hier aus nehmen sie nach allen Seiten, besonders nach Norden und Osten an Zahl ab, im Westen dagegen reichen sie bis zum Unter- und Mittellauf der Wolga hinauf, wo sie früher selbständige Reiche bildeten. Außerdem sind sie im Süden und Osten Transkaukasiens stark vertreten.
Alsdann folgen die römisch-katholischen Polen mit rund 10 Millionen (6% der Bevölkerung); sie bilden in den Weichselprovinzen etwa 72% der Bewohner. Obgleich den Russen hinsichtlich der Abstammung nahe verwandt, stellen sie politisch doch einen starken Gegensatz zum Russentum dar, der auch äußerlich durch die Verschiedenartigkeit der kirchlichen Bekenntnisse in die Erscheinung tritt.
Rußland wird die Verteidigung seiner Westmark durch die unzuverlässige oder gar feindselig gesinnte polnische Bevölkerung außerordentlich erschwert.
Ähnlich steht es im Nordwesten, in Finnland, wo die größtenteils evangelischen Finnen zäh an ihrem Volkstum hängen und sich energisch der Russifizierung widersetzen. Neben Schweden, Deutschen, Russen und Lappen bilden die 2 1/2 Millionen Finnen die Hauptbevölkerung Finnlands (87 %). Auch in den Baltischen Provinzen ist ein finnischer Stamm ansässig, nämlich die über l Million zählenden, in Estland und Livland ansässigen Esten. Im Gegensatz zu diesen Westfinnen sind die Ostfinnen (Ukrier, Permier, Wolgafinnen) stark mit den Russen vermischt, daher auch körperlich und kulturell nur noch wenig von den Russen verschieden und wie diese der orthodoxen Kirche angehörend. West- und Ostfinnen zählen zusammen etwa 7 Millionen und bilden rund 4 1/2 % der Gesamtbevölkerung.
Einen ebenso hohen Prozentsatz erreichen die Juden. Von den rund 13 Millionen Juden der ganzen Welt wohnt etwa die Hälfte in Rußland. Sie stammen meist aus Deutschland, von wo sie, durch die mittelalterlichen Verfolgungen vertrieben, in das Gebiet des ehemaligen Polnischen Reiches auswanderten. Im Europäischen Rußland sind sie auf Polen, West- und Kleinrußland sowie auf Südrußland, Kurland und Livland beschränkt, während sie in Groß- und Ostrußland nicht zugelassen werden; dagegen haben sie sich schon vielfach im Kaukasus, in Mittelasien und in Sibirien festgesetzt. "In ihren Wohnsitzen und ihrer Erwerbs- und Bildungsmöglichkeit aufs äußerste beschränkt, der willkürlichsten Behandlung unterworfen, verkommen sie in physischem und moralischem Elend, da ihre Zahl in den meisten Städten, die sie bewohnen dürfen, viel zu groß ist, als daß sie sich in den ihnen offenstehenden Berufen (Handel, Handwerk, Fabrikarbeit) genügend ernähren könnten" (Philippson.).
Die Deutschen (2 Millionen) bilden den grundbesitzenden Adel und den städtischen Bürgerstand in den Ostseeprovinzen, spielen aber auch in der Industrie Polens neuerdings eine gewichtige Rolle (am stärksten sind sie im Gouvernement Petrokow vertreten, wo sie 10,6 % der Bevölkerung bilden). Außerdem gibt es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Rußland eine Reihe von deutschen Ackerbaukolonien, so an der Wolga südlich von Saratow, am Dnjeprknie und in Wolynien; endlich leben Deutsche überall in den Städten zerstreut als Industrielle, Kaufleute und Handwerker. Die hohe kulturfördernde Bedeutung der Deutschen in Rußland ist bekannt und wird im allgemeinen dort gewürdigt. Kannenberg schreibt: "Man kann den kulturellen Einfluß der Deutschen in Rußland nicht leugnen und muß auch anerkennen, daß die in russischen Diensten stehenden Deutschen stets treue Untertanen des Zaren gewesen sind.".
Eine ähnliche Rolle wie die Deutschen spielen die etwa 360 000 Schweden in Finnland.
Zu den Slaven im weiteren Sinne gehören auch die Letten und Littauer, die ersteren (etwa 1,5 Millionen) in Kurland, dem südlichen Livland und einem Teil des Gouvernements Witebsk die Mehrheit bildend, letztere (1,3 Millionen) am unteren Njemen, im Gouvernement Kowno und im nordöstlichen Polen.
Nach dem religiösen Bekenntnis ist die weitaus überwiegende Anzahl der russischen Untertanen christlichen Glaubens (84%); der griechisch-orthodoxen Kirche gehören hiervon 71% an; zu ihr bekennen sich außer den eigentlichen Russen die meisten östlichen Finnen und die Rumänen; abgesondert haben sich von ihr zahlreiche Sekten, so die Raskolniken oder Altgläubigen (ca. 2 Millionen). Zu den Römischkatholischen zählen die Polen, die Littauer und ein Teil der Deutschen, zu den Protestanten die Schweden, Letten, Esten und die meisten Deutschen, zu den Mohammedanern die türkischen Völker, zu den Buddhisten die Kalmüken, Chinesen und Koreaner, zu den Heiden die Samojeden und ein großer Teil der Ostfinnen.
"So ist denn in Rußland weder national, noch kirchlich eine Einheitlichkeit vorhanden, aber die herrschende Nation und Kirche umfaßt 3 Vierteile der Bevölkerung, und der Rest ist zersplittert, räumlich getrennt, zum Teil verfolgt oder wenigstens in seinen Rechten beeinträchtigt." (Philippson.)

 

Allgemeiner Überblick über Russland in militär-
geographischer Beziehung

1. Kurzer Überblick über Lage und Grenzen des Russ. Reiches
2.
Bevölkerung
3. Verwaltung
4. Volkswirtschaft (Landwirtschaft, Viehzucht, Gewerbe, Industrie)
5. Verkehrswesen (Wasserstraßen, Landwege, Eisenbahnen)
6. Das Russische Heer

 

Die russischen Grenzgebiete in ihrer Eigenschaft als
Kriegsschauplätze

Europäisches Rußland

1. Der vordere Kriegsschauplatz (Polen)
2. Der nordwestliche Kriegsschauplatz
3. Das Küstengebiet von Riga bis St. Petersburg
4. Finnland
5. Das Poljessje
6. Der südwestliche Kriegsschauplatz
7.
Das Küstenland des Schwarzen Meeres mit der Halbinsel Krim

Asiatisches Russland

8. Der Kaukasus 
9. Turkestan 
10. Ost-Sibiren (Trans-Baikalien, Amurgebiet und Küstengebiet)

 

HAUPTSEITE

Textquelle: 
Kurze militär-geographische Beschreibung Russlands
von L. Schmidt
Hauptmann und Kompagniechef im k. bayr. 7. Inf. Regt. Prinz Leopold
Militär-Verlag von Zuckerschwerdt & Co.
Berlin 1913