Allgemeiner Überblick über Russland in militär-geographischer Beziehung

 

Verwaltung.

Ganz Rußland ist in Gouvernements eingeteilt, die wieder in Kreise (Ujesty) zerfallen. Die teils von Peter dem Großen, teils von Katharina II. geschaffenen Gouvernements lassen sich am besten mit Provinzen vergleichen, wie sie in Preußen bestehen. An der Spitze jedes Gouvernements steht ein vom Zaren ernannter Gouverneur, dem ein Vizegouverneur beigegeben ist; er ist der Chef der allgemeinen Landesverwaltung, welchem das Polizeiwesen untersteht.
Mehrere Gouvernements sind Generalgouverneuren unterstellt; so gibt es einen Generalgouverneur der Weichselprovinzen mit dem Sitze in Warschau, ferner noch Generalgouverneure in Kijew (mit Podolien und Wolynien), in Wilna mit den Gouvernements Wilna, Grodno und Kowno, in Turkestan, in Irkutsk, in den Steppengouvernements und im Amurgebiet. (Auch das Gouvernement Moskau hat einen Generalgouverneur, doch ist dies nur als ein Ehrenvorrecht anzusehen, das der alten Reichshauptstadt gezollt wird.) Die Generalgouverneure, denen der Statthalter im Kaukasus gleich zu achten ist, sind mit außerordentlichen Vorrechten ausgestattet: sie wenden sich ohne Vermittlung des Ministers des Innern unmittelbar an den Zaren, können, wenn der Ausnahmezustand verhängt ist, Strafverfügungen erlassen, die administrative Verschickung anordnen usw., kurz, es sind ihnen sehr große Machtbefugnisse verliehen; besonders trifft dies zu, wenn der Generalgouverneur auch zugleich die höchste militärische Macht in seinem Bezirk inne hat, wie zur Zeit in Polen, Moskau und im Kaukasus, hier bekleiden die Generalgouverneure auch gleichzeitig die Stellung des Oberbefehlshabers des Militärbezirkes.
Den Gouvernements gleich zu stellen sind die Gebiete (Oblasti), deren es 18 gibt, während die Zahl der Gouvernements 71 beträgt; dazu kommt als besonderer Bezirk die Insel Sachalin, sodaß im Ganzen 90 große Verwaltungsbezirke im Europäischen und Asiatischen Rußland bestehen; hierzu treten noch die 8 finnländischen Gouvernements. Der Größe nach sind diese Verwaltungsgebiete außerordentlich verschieden, das kleinste Gouvernement (Schwarzmeergebiet) ist etwas größer als Oldenburg, das größte (Jakutsk) siebenmal so groß als Deutschland. Näheren Aufschluß über Einwohnerzahl und Größe der einzelnen Gouvernements gibt Anlage I.
Kreise (Ujesty) sind im ganzen 810 vorhanden; dem Kreise steht der Isprawnik vor. In polizeilicher Hinsicht werden die Kreise in Landpolizeikommissariate (Stany) eingeteilt, deren es 2144 gibt.
Die nächstfolgenden kleineren Verwaltungsbezirke sind die Amtsbezirke (Wolosti, in Polen Gminy).
Städte sind vorhanden in Rußland: 923, Marktflecken 54 und andere besiedelte Punkte 577557. (Nach Schlesinger.)
Über das innere Wesen des russischen Staates, wie es sich in seiner Verfassung und Verwaltung äußert, stellt Hettner interessante Betrachtungen an. Auf historischer Grundlage weist er nach, wie sich unter byzantinischem und tatarischem Einfluß in Rußland eine Despotie im strengen Sinne des Wortes gebildet hat, die im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich in den reinen "Polizeistaat" überging. In diesem Polizeistaat trat im Gegensatz zu den Vollkulturländern des Westens, zu den "Rechtsstaaten" deutlich die Halbheit der Europäisierung Rußlands zutage. Es mußte bei dieser Halbheit bleiben, solange die Selbstherrschaft des Zaren und die in Formalismus erstarrte allmächtige Beamtenschaft bestand, die der Öffentlichkeit gegenüber sich nicht verantwortlich fühlte. Hettner schreibt: "Die Bürokratie ist hierarchisch, wie kaum sonst wo und auch in einem Formalismus erstarrt, wie kaum sonst. Sie ist eine riesige Maschine mit ungeheurer Reibung. Auf dem Papiere stehen die vortrefflichsten Verordnungen; aber sie werden nicht ausgeführt. Die russische Bürokratie ist auf dem Untergründe und im Milieu eines halb barbarischen Volkes, dessen überwiegende Mehrheit bis vor kurzem aus Leibeigenen bestanden hat, in dem ein selbständiger Adel und ein selbständiges Bürgertum nur schwach entwickelt sind, in dem die Kontrolle einer öffentlichen Meinung und eines Parlamentes noch fehlt, ganz entartet. Gewiß sind eine ganze Anzahl tüchtiger Männer darunter, aber dem Beamtenstand im ganzen sind nach allgemeinem Urteil geringe Arbeitsamkeit und Zuverlässigkeit, Neigung zur Gewaltsamkeit, Bestechlichkeit und Unehrlichkeit in hohem Grade eigen, welch letztere Eigenschaften allerdings in der sehr schlechten, für die Bestreitung des Lebensunterhaltes meist nicht ausreichenden Besoldung eine gewisse Entschuldigung finden."
Dieses Urteil wurde vor 7 Jahren gefällt; inzwischen ist in Rußland ein Ereignis von weittragendster Bedeutung eingetreten:
durch das Manifest des Zaren vom 17./30. Oktober 1905 wurde den Russen bürgerliche Freiheit auf Grund der Gewissens-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit verheißen. Diesem Manifeste folgte am 23. April 1906 die Veröffentlichung der "Staatsgrundgesetze", die die Verfassungsurkunde des Russischen Reiches darstellen. So ist wenigstens der allmähliche Übergang in einen modernen Rechtsstaat gewährleistet. Daß diese gewaltige Umwälzung nur langsam, unter vielen Reibungen und manchen Rückschlägen erfolgen kann, liegt auf der Hand, immerhin ist allein schon durch die Schaffung der Duma Großes auf dem Wege der Fortentwicklung geschehen.

 

Allgemeiner Überblick über Russland in militär-
geographischer Beziehung

1. Kurzer Überblick über Lage und Grenzen des Russ. Reiches
2. Bevölkerung
3.
Verwaltung
4. Volkswirtschaft (Landwirtschaft, Viehzucht, Gewerbe, Industrie)
5. Verkehrswesen (Wasserstraßen, Landwege, Eisenbahnen)
6. Das Russische Heer

 

Die russischen Grenzgebiete in ihrer Eigenschaft als
Kriegsschauplätze

Europäisches Rußland

1. Der vordere Kriegsschauplatz (Polen)
2. Der nordwestliche Kriegsschauplatz
3. Das Küstengebiet von Riga bis St. Petersburg
4. Finnland
5. Das Poljessje
6. Der südwestliche Kriegsschauplatz
7.
Das Küstenland des Schwarzen Meeres mit der Halbinsel Krim

Asiatisches Russland

8. Der Kaukasus 
9. Turkestan 
10. Ost-Sibiren (Trans-Baikalien, Amurgebiet und Küstengebiet)

 

HAUPTSEITE

Textquelle: 
Kurze militär-geographische Beschreibung Russlands
von L. Schmidt
Hauptmann und Kompagniechef im k. bayr. 7. Inf. Regt. Prinz Leopold
Militär-Verlag von Zuckerschwerdt & Co.
Berlin 1913