Europäisches
Rußland
1.
Der vordere Kriegsschauplatz (Polen)
Lage
und Grenzen.
Die breite Ausbuchtung des russischen Reiches nach Westen, das frühere Königreich
Polen oder die nunmehrigen Weichselprovinzen nennen die Russen das
"vordere Kriegstheater". Seine Begrenzung stimmt nicht ganz mit
den administrativen Grenzlinien der Weichselprovinzen überein, denn das
nicht mehr in der Ausbuchtung gelegene polnische Gouvernement Suwalki gehört
zu einem anderen, dem nordwestlichen Kriegsschauplatz, während ein Teil
des westrussischen Gouvernements Grodno noch in den Bereich des vorderen
Kriegstheaters fällt. Im Norden und Westen grenzt dieses in einer
Ausdehnung von etwa 650 Werst an Preußen, im Süden an Österreich
(Grenzlinie etwa 450 Werst) und im Osten an eine Linie, die von dem
Grenzort Raigrod über Grodno, den Njemen, die Schara, die Moskau -
Brester Chaussee und den westlichen Bug entlang verläuft. Innerhalb
dieser Begrenzungen hat das Gebiet fast die Gestalt eines regelmäßigen
Vierecks von etwa 360 Werst Breite (= Berlin - Frankfurt a. M. oder rund
18 Tagemärsche) und etwas weniger Länge. Die Grenzlinie gegen
Deutschland und Österreich ist fast durchweg offen, d. h. durch keine natürlichen
Abschnitte gebildet und nur im Süden ergibt der Oberlauf der Weichsel auf
einer Strecke von 150 Werst eine natürliche Grenzscheide.
Oberflächengestalt.
Der Kriegsschauplatz trägt im allgemeinen den Charakter einer Ebene von
100-200 m absoluter Höhe, nur im Süden ziehen sich zu beiden Seiten der
Weichsel die nördlichen Ausläufer der Karpathen hin, aber auch diese Höhenzüge,
deren höchster nur 617 in beträgt, bilden in ihrer Gesamtheit kein
nennenswertes militärisches Hindernis, sondern tragen nur zur
Durchschnittenheit des Geländes bei. Links der Weichsel, zwischen dieser
und der Nida, erheben sich die gegen Südosten streichenden Höhen von
Sandomir mit der
Lysagora (617 m), deren steiler und bewaldeter Rücken 40 Werst lang und
3-4 Werst breit emporragt. Nördlich und südlich der Lysagora und fast
gleichlaufend zu ihr ziehen sich zwei ähnliche Rücken hin, die sich im
Norden in einzelnen bewaldeten Erhebungen bis zur Piliza fortsetzen.
Westlich der Nida gegen die schlesische Grenze zu liegt das sogenannte
Krakauer Bergland; es sind mäßige, meist bewaldete Anhöhen mit engen Tälern
und steilen Hängen. Den südöstlichen Teil des Kriegsschauplatzes nehmen
die rechts der Weichsel gelegenen Lubliner Höhen ein (mittlere Höhe
230-300 m). Auch diesen Erhebungen kommt wie den vorher genannten kaum
eine die großen Heeresbewegungen beeinflussende, sondern wohl nur eine
taktische Bedeutung zu und sie stehen in dieser Beziehung den Flüssen und
Sümpfen des Gebietes an Wichtigkeit entschieden nach.
Die
Flüsse.
Unter den Flüssen, die den Kriegsschauplatz durchströmen, nimmt die
gewaltige Stromschranke der Weichsel den ersten Platz ein. Sie entspringt
auf österreichischem Gebiete in den Karpathen, berührt bald hinter
Krakau (bei dem Dorfe Morgi) die österreichischrussische Grenze, die sie
dann selbst in einer Ausdehnung von 150 Werst bildet bis sie bei Sawichost
die bisherige nordöstliche Richtung in eine nördliche ändernd, das
polnische Gebiet betritt. Nun durchströmt sie in einer Ausdehnung von
rund 9000 Werst in im allgemeinen nördlicher Richtung die Mitte des
Kriegsschauplatzes und wendet sich, bei Nowogeorgijewsk einen scharfen
Winkel nach Westnordwesten einschlagend, der deutschen Grenze zu, um bald
jenseits dieser Thorn zu erreichen. Die Ausmaße des Flusses sind so beträchtlich
, daß er schon in normalen Zeiten ein ganz bedeutendes militärisches
Hindernis bildet (Breite und Tiefe bei Krakau etwa 100 und 2 m, bei
Sandomir 600 und 4 m, bei Warschau 700 bis 1000 m und 4-6 m). Umsomehr ist
dies der Fall, wenn zur Hochwasserzeit - gewöhnlich im April, Ende Juni
und Mitte Juli - der Strom infolge der Schneeschmelze, heftiger Regengüsse
und flußaufwärts wehender Winde auf weite Strecken hin aus seinen Ufern
tritt. Da wie bei den meisten russischen Flüssen auch bei der Weichsel
entweder gar nicht oder nur ganz ungenügend für Flußkorrektion gesorgt
ist, so ergießen sich die Fluten ungehindert ins flache Ufergelände und
richten zeitweise große Verheerungen an. Die Zeit der Überschwemmungen
dauert in der Regel 7-8 Tage. Zwischen Mitte Oktober und Ende Dezember
friert der Fluß zu; die Periode des Aufganges fällt zwischen Mitte
Februar und Anfang April. In der eisfreien Zeit ist der Schiff- und Floßverkehr,
der schon ab Krakau beginnt, sehr bedeutend. Erschwert wird die Schiffahrt
namentlich im Sommer durch die der Weichsel eigentümliche große
Verschiedenheit inbezug auf Wassertiefe und Strömung selbst auf den kürzesten
Entfernungen. Durch den Bug - Dnjepr - Kanal steht die Weichsel mit dem
Schwarzen Meere, durch den Augustowski - Kanal mit dem Njemen in
Verbindung. Nur in seinem kurzen Oberlaufe ist der Fluß durch die
Lubliner Höhen eingeengt, im übrigen sind beide Ufer flach. Fähren sind
in genügender Anzahl vorhanden, Brücken jedoch nur bei Iwangorod,
Warschau, Plozk und Wlozlawsk. In militärgeographischer Beziehung läßt
sich die Weichsel in drei Abschnitte teilen, deren erster sich von Morgi
bis Sawichost erstreckt. Hier bildet der Fluß die Reichsgrenze gegen Österreich.
Nach seinen Ausmaßen stellt er zwar schon hier ein erhebliches militärisches
Hindernis dar; trotzdem kommt ihm insofern nur geringe Bedeutung zu, als
der Uferwechsel schon oberhalb Morgi auf österreichischem Gebiet erfolgen
kann oder aber ein solcher zum Einbruch in Rußland überhaupt nicht nötig
wird, indem die Österreicher den Strom östlich von Sawichost umgehen.
Der nun folgende zur deutschen Grenze gleichlaufende Abschnitt von
Sawichost bis Nowogeorgijewsk ist dagegen von größter militärischer
Bedeutung. Dem von Schlesien oder Posen einbrechenden deutschen Heere
stellt sich die Weichsel hier als gewaltige Stromschranke entgegen, deren
wenige Übergänge überdies noch durch die Festungen Iwangorod, Warschau
und Nowogeorgijewsk gesperrt sind. Eine besondere Wichtigkeit erhält der
Abschnitt noch dadurch, daß nur ein kleiner Teil, nämlich der
Unterabschnitt Sawichost - Iwangorod, rechts der Weichsel umgangen werden
kann, während der übrige Teil Iwangorod - Nowogeorgijewsk auch nach
Norden und Süden geschützt ist und zwar nach Norden durch den bei
Nowogeorgijewsk einmündenden Narew - Bug, sowie durch den Narew und Bobr,
nach Süden durch den bei Iwangorod in die Weichsel fließenden Wjeprsch
mit seinem Nebenflusse Tysmeniza. Der zwischen diesen Flüssen liegende
Raum hinter dem Weichselabschnitt Iwangorod - Nowogeorgijewsk ist somit
eine durch natürliche und künstliche Hindernisse vorzüglich gesicherte
Versammlungs- und Verteidigungszone für die russischen Armeekorps des
Warschauer Militärbezirkes und daher bei der ausgesprochenen
Verteidigungstendenz der Russen von allergrößter Bedeutung.
Demgegenüber spielt der letzte Abschnitt von Nowogeorgijewsk bis zur
deutschen Grenze dank seiner westnordwestlichen Stromrichtung nur eine
untergeordnete Rolle. Von den deutschen Heeren kann er sowohl südlich wie
nördlich umgangen werden, und seine Bedeutung wird wohl in erster Linie
darin bestehen, daß er unter Umständen einzelne in gleicher Richtung
operierende Heeressäulen trennt.
Von den linksseitigen Nebenflüssen der Weichsel nennen wir mir die
wichtigsten: die Piliza und die Bsura. Erstere entspringt nahe der Südwestecke
Polens, fließt dann - etwa halbwegs zwischen Weichsel und deutscher
Grenze bis Tomaschow in nördlicher, im weiteren Verlaufe bis zu
ihrer Einmündung etwa 50 Werst oberhalb Warschau in nordöstlicher
Richtung. Obgleich abgesehen von der Hochwasserzeit von wenig
bedeutenden Ausmaßen , hat der Fluß doch auf vielen Strecken die
Eigenschaft eines militärischen Hindernisses, zumal ihn im Oberlaufe große
Waldkomplexe, im Mittel- und Unterlaufe vielfach Sumpfstrecken begleiten.
Die viel kleinere, nördlich von Lodz entspringende Bsura erhält nur
dadurch eine Bedeutung, daß sie in einem sehr breiten, sumpfigen Tale in
im allgemeinen östlicher, später nordöstlicher Richtung fließt und
hierdurch bis zu einem gewissen Grade die Westfront Warschaus deckt. Doch
kommt sowohl der Bsura wie der Piliza und umsomehr den anderen kleineren
linksseitigen Zuflüssen der Weichsel im allgemeinen doch nur den
Charakter eines je nach Jahreszeit und Witterung mehr oder minder
bedeutenden taktischen Hindernisses zu. In strategischem Sinne
wichtig sind dagegen einige der rechten Zuflüsse.
Der südlichste der wichtigeren rechten Nebenflüsse der Weichsel ist der
Wjeprsch, der nahe der galizischen Grenze entspringt und bis Kozk in
nord-nordwestlicher Richtung fließt. Erst von diesem Orte an, wo er
rechts als Zufluß, die Tysmeniza empfängt und nunmehr in rein westlicher
Richtung der Weichsel zuströmt, gewinnt er Bedeutung, da er auf dieser
Strecke im Verein mit der Tysmeniza die oben erwähnte wichtige
"Zentralposition" des vorderen Kriegstheaters nach Süden
absperrt. Seine Breite ist zwar wenig erheblich (60-100 m), die Tiefe fast
überall gegen 2 m, das Wesentlichste aber ist das breite, im Frühjahr
und während der Regenperioden weithin überschwemmte Sumpftal, das er
durchströmt. Dieselben Eigenschaften weist auch das Ufergelände der die
östliche Fortsetzung des Wjeprsch bildenden Tysmeniza auf, die ihrerseits
wieder mit dem großen Sumpfgelände südwestlich von Brest-Litowsk
zusammenhängt. So können die Tysmeniza und der Wjeprsch, der bei der
Festung Iwangorod in die Weichsel einmündet, wohl als starke
Hindernislinien angesehen werden gegenüber einem österreichischen
Angriff, der sich rechts der Weichsel auf die Zentralposition oder auf
Brest-Litowsk wendet.
Der weitaus größte der rechten Nebenflüsse der Weichsel ist der
westliche Bug. Er entspringt in Galizien, fließt zuerst die östliche
Begrenzung des vorderen Kriegstheaters bildend bis Brest-Litowsk, wo
rechts der Muchawjez einmündet, in rein nördlicher, hierauf bis Nur in
nordwestlicher Richtung und biegt dann nach Westen ein, um nur etwa 295
Werst von der Weichsel entfernt bei Serozk den Narew aufzunehmen, weshalb
dieses letzte Stromstück die Bezeichnung Bug-Narew, auch Narew-Bug, führt.
Bei sehr mäßiger Strömung erreicht der Fluß eine Breite bis zu 140 m
und eine Tiefe im Frühjahr bis zu 4 m, während sie im Sommer oft nicht
einmal 1 m beträgt. Die Schiff- und Floßfahrt, die nur im Frühjahr
und Herbst möglich ist und sich hauptsächlich mit dem Holz- und
Getreidetransport befaßt, beginnt bei Usstilug. An den Ufern, die größtenteils
niedrig sind, ziehen sich häufig größere Seenflächen hin. Brücken,
namentlich aber Fähren und auch Furten sind in verhältnismäßig großer
Anzahl vorhanden. Die militärische Bedeutung des westlichen Bug liegt vor
allem darin, daß er ein in zweiter Linie liegendes Hindernis darstellt
sowohl einem Feinde gegenüber, der aus Westen gegen die Weichsel vorrückt,
wie auch einem aus Norden (Ostpreußen) gegen den Narew anmarschierenden
gegenüber.
Für die russische Verteidigung wichtiger ist das gegen die ostpreußische
Grenze in erster Linie liegende Hindernis: der Narew. Er entspringt nordöstlich
von Brest-Litowsk und fließt bis Surash in westlicher Richtung. Auf
dieser Strecke, wo er sich häufig in mehrere Arme teilt, sind seine Ausmaße
nur unbedeutend; trotzdem kann der in einem breiten, stellenweise
sumpfigen Tale fließende Narew hier vorübergehend einem Gegner
Aufenthalt bereiten, der nach Überwindung der Bobrlinie gegen
Brest-Litowsk anrückt. Von Surash bis zur Bobrmündung fließt der Narew
in großen Windungen in allgemein nordwestlicher Richtung. Der Fluß wird
in diesem Abschnitt bis zu 60 m breit und 2-6 m tief und ist auf beiden
Seiten von ausgedehnten Sümpfen begleitet. Er sperrt die aus Polen gegen
Bjelostok und Grodno heranführenden Wege. Der nun folgende etwa 200 Werst
lange Flußabschnitt von der Bobr- bis zur Bugmündung ist der wichtigste,
denn hier fließt der Narew in einer Entfernung von nur 2-4 Tagesmärschen
fast gleichlaufend zur deutschen Grenze und sperrt somit alle aus
Ostpreußen gegen Brest-Litowsk und die Zentralposition heranführenden
Straßen. Da die Russen einen deutschen Vorstoß von Norden auf
Brest-Litowsk für sehr wahrscheinlich halten, so gewinnt gerade der östliche
Teil dieses Narewabschnittes erhöhte Bedeutung. Die Breite des Flusses
schwankt hier zwischen 60 und 100 in, die Tiefe zwischen 2 und 7 m. Das
großenteils sumpfige Tal ist bis zur Einmündung der Pissa ziemlich weit
und verengt sich nur bei Lomsha auf 1 1/2 bis 2 Werst. Hier stößt an das
südliche Narewufer fast rechtwinklig ein 40 Werst langer sandiger Höhenrücken,
der Tscherwonny Bor, eine starke Flankenstellung gegenüber einem zwischen
Segrsh und Lomsha übergegangenen Feinde. - Zwischen der Einmündung der
Pissa und der des Orschiz wird das Tal bedeutend enger und hört auf,
sumpfig zu sein, die Tiefe des Flusses verringert sich auf 1 in, die
Breite wächst auf 80-120 m. Wenn somit auch die Verhältnisse unmittelbar
am Flusse auf dieser Strecke besser sind, so müssen doch die Bedingungen
für einen Vormarsch aus Ostpreußen gerade hier insofern besonders ungünstig
genannt werden, als der Raum zwischen Pissa und Orschiz sich durch
ungeheure waldige Sumpfflächen auszeichnet, die schon an der preußischen
Grenze beginnen. Unterhalb der Mündung des Orschiz erreicht der Narew
eine Breite bis 140 m, die Tiefe läßt nirgends mehr eine Durchfurtung
zu. Schiffbar wird der Narew, dem als Holzabflößlinie Bedeutung zukommt,
von der Bobrmündung ab, Dampfschiffe verkehren bei hohem Wasserstande von
Pultusk an. Der Fluß friert in der Regel Ende November zu, Ende Februar
beginnt gewöhnlich der Eisgang. Zur Zeit der Schneeschmelze erhebt sich
der Wasserstand um 2-3 m und fährt Überschwemmungen herbei, die oft 2
Monate andauern. Brücken, Fähren und Furten sind namentlich oberhalb der
Einmündung des Bobr in hinreichendem Maße vorhanden, auf dem wichtigeren
Abschnitt unterhalb der Bobrmündung führen nur bei Lomsha, Ostrolenka,
Roshan und Pultusk Brücken über den Fluß; diese vier Übergangsstellen
sind durch Befestigungen gesperrt. Der Narew - Bug, wie der Fluß nach der
Vereinigung mit dem Bug genannt wird, hat bei einer Länge von nur etwa 25
Werst die stattliche Breite von durchschnittlich 300 m und eine Tiefe von
rund 5 m, das rechte Ufer ist trocken, während sieh links streckenweise
Sumpfflächen hinziehen. Die zwei Übergänge bei Segrsh und bei
Nowogeorgijewsk sind durch Festungsanlagen gedeckt. Die nordöstliche
Fortsetzung des wichtigsten Narewabschnittes ist der durch den
Augustowkanal mit dem Njemen verbundene Bobr. Er fließt gleichlaufend zur
preußischen Grenze und nur einen starken Tagemarsch
von ihr entfernt. Von wenig bedeutenden Ausmaßen (Breite nur 20 -
50m, Tiefe 1 -5m) hat der Bobr wegen seines ausgedehnten Sumpftales -
Bobrbrüche - doch die Eigenschaft eines starken Hindernisses gegenüber
einem aus Ostpreußen auf Brest-Litowsk vorstoßenden Feind. Der
wichtigste Übergang bei Ossowiez, ist durch Befestigungen gesichert. Außerdem
führen bei Stabin und Nowaja-Kamennaja Brücken über den Fluß.
Von den übrigen Flüssen des Kriegsschauplatzes ist nur noch zu nennen
die der Oder zuströmende Warthe, deren linker Zufluß, die Prosna, auf
etwa 150 Werst - mit einer kurzen Unterbrechung bei Kalisch - die
deutsch-russische Grenze bildet. Die Warthe (russisch: Warta) ist im
Mittellauf von breiten Sumpfflächen begleitet. Sie würde sich ihrer natürlichen
Beschaffenheit, Richtung und Lage nach wohl zu einem günstigen
Verteidigungsabschnitt für die Russen eignen; augenscheinlich
beabsichtigen diese jedoch nicht, hier einen ernsthaften Widerstand zu
leisten, was sich daraus entnehmen läßt, daß keiner der zahlreichen
Wartheübergänge befestigt ist. Eine so weit vorne (westlich) gewählte
Verteidigungslinie würde übrigens für die Russen die große Gefahr in
sich schließen, von vornherein sowohl von Ostpreußen wie von Galizien
her umfaßt und abgeschnitten zu werden. In der russischen Militärliteratur
wird daher ganz offen ausgesprochen, welcher Raum bei Beginn eines
Feldzugs als Verteidigungszone ausersehen ist: es ist die von den starken
und stellenweise künstlich verstärkten Hindernislinien Bobr, Narew,
Narew-Bug, Weichsel, Wjeprsch mit Tysmeniza umgebene
"Zentralposition"; die hier genannten Wasserläufe sind daher
die militärisch wichtigsten im vorderen Kriegstheater.
Sümpfe.
Abgesehen von den schon erwähnten Sumpfstreifen, die auf weite Strecken
die Flüsse begleiten und so ihre Verteidigungskraft erhöhen, sind es
namentlich drei große sumpfige Räume, denen als Hinderniszonen militärische
Bedeutung zukommt: die eine liegt östlich der Wissa, einem Nebenfluß des
Bobr, und füllt hier fast den ganzen Raum zwischen diesem und der preußischen
Grenze aus, sodaß die Straße Lyck-Grajewo-Ossowiez als ein langes Engnis
anzusehen ist. Zwischen der Wissa und der Pissa folgt nun ein sumpffreier
Raum; die Vormarschverhältnisse zum Narewübergang Lomsha sind also hier
günstig, weshalb die Rassen bei Lomsha eine ständige Befestigung
errichtet haben.
Westlich der Pissa liegt der zweite, noch größere bewaldete Sumpfraum.
Er dehnt sich bis zum Orschiz aus, reicht nordwestlich bis zur deutschen
Grenze und südöstlich fast zum Narew. Nur eine Straße führt durch das
Sumpfgelände: die von Ortelsburg nach dem befestigten Narewübergang
Ostrolenka- Die dritte Sumpfzone ist im Süden gelegen, zwischenWloclawa
am Bug im Osten und der Tysmeniza im Westen, als deren östliche
Fortsetzung im Sinne eines Hindernisses gegen einen österreichischen.
Vormarsch aus Galizien auf Brest-Litowsk.
Wälder.
Im Vergleich zu anderen russischen Gebieten weist Polen nur wenig Wald auf
(25% der Oberfläche). Kleinere Wälder finden sich überall zerstreut,
große, die Truppenbewegungen behindernde Waldzonen sind im Süden
anzutreffen südlich der Piliza, in den Sandomirbergen und zwischen
Sawichost und Tomaschow, im Norden in den schon erwähnten Sumpfgebieten
an den Zuflüssen des Bobr und Narew, ferner östlich von Bjelostok und in
dem noch Urwaldcharakter tragenden, durch seine Wisentbestände berühmten
Gebiet von Bjelowjesh (nordöstlich Brest-Litowsk). Der größte Teil
dieser Waldzonen ist in, militärischer Hinsicht starken Hindernissen fast
gleich zu achten, denn entweder sind die Gebiete völlig wegelos oder die
vorhandenen Straßen haben die Eigenschaft langer Engnisse. Im allgemeinen
kommen diese dünn besiedelten Bezirke weder für die Unterkunft noch für
eine Gefechtstätigkeit großer Massen in Betracht.
Klima.
Polen zeichnet sieh durch ein gemäßigtes Klima ohne schroffe Übergänge
aus. Mit dem Frühjahr, das in der Regel Anfang oder Mitte März beginnt,
tritt Tauwetter ein, das oft innerhalb weniger Tage die zugefrorenen Flüsse
usw. vom Eise befreit, in den nächsten Wochen riesige Überschwemmungen
hervorruft und selbst kleine Wasseradern. zu ernsten Hindernissen
umgestaltet. Es tritt nun in weiten Bezirken die Zeit der Wegelosigkeit,
die sogenannte "Rasputiza" ein, die in diesem Gebiete schon
einmal, im russisch-polnischen Krieg 1831 eine Rolle spielte, indem sie
die Russen mehr als einen Monat lang an die Umgebung Warschaus fesselte.
Der Sommer ist außerordentlich regenreich; im Juli und Mitte August
treten häufig heftige Regenperioden ein, die oft wie im Frühjahr ein
Anschwellen und Übertreten der Flußläufe bewirken. Der Herbst zeichnet
sich durch Trockenheit aus; für Truppenbewegungen ist er die günstigste
Jahreszeit. Fast noch mehr trifft dies für den Winter zu, wenn starker
Frost die Sümpfe und Wasserläufe durch Eisdecken gangbar macht, damit
weite Strecken ihres Charakters als Hindernis entkleidet und hierdurch die
militärische Bedeutung ganzer Gebiete verschiebt. Doch ist weder auf die
Regelmäßigkeit des Eintrittes noch auf eine bestimmte Dauer dieser
Frostperioden mit Sicherheit zu rechnen, denn der Winter ist im
allgemeinen mild, sodaß sogar noch gegen Ende Dezember häufig wie im Frühjahr
ein Zustand der Wegelosigkeit eintritt (Feldzug 1806).
Bevölkerung.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung im vorderen Kriegstheater ist wenig günstig
für Rußland, denn die Hauptmasse bilden die im vaterländischen Sinne
unzuverlässigen Polen (74%), dann folgen die Juden mit 14%, und die
Deutschen mit 4% sodaß auf die Russen nur etwa 8% entfallen. Diese wohnen
in der Hauptsache in den östlichen Bezirken (Gouv. Lublin, Sjedlez), während
die Deutschen mehr im Westen (Gouv. Petrokow, Kalisch, Plozk) sowie in den
Industriemittelpunkten anzutreffen sind.
Mit Rücksieht auf das starke Überwiegen der polnischen Bevölkerung ist
Rußland gezwungen, im Frieden die Truppenteile des Militärbezirkes
Warschau aus dem Inneren zu ergänzen und dasselbe Verfahren im
Kriegsfalle hinsichtlich der Ergänzungsmannschaften anzuwenden, wodurch
der Abschluß der Mobilmachung wesentlich verzögert wird.
Die Bevölkerungsdichte ist sehr hoch (102 E. auf 1 QW) und steigt ständig,
nicht nur infolge der natürlichen Bevölkerungszunahme, sondern auch
wegen des Zuzuges an Arbeitern, der durch das Überhandnehmen der
Industrie jährlich an Umfang zunimmt. So ist die Bevölkerung Polens von
7 Millionen im Jahre 1880 auf 11 Millionen im Jahre 1907 gestiegen und während
die Fabrikstadt Lodz vor 25 Jahren nur 60 000 E. zählte, war sie schon
1901 mit 352 000 E. die fünftgrößte Stadt des Reiches! Etwa 20 % der
Bevölkerung leben in Städten; auf etwa 3 QW des flachen Landes trifft
eine Ansiedlung, die von mäßiger Größe sind, rund 20 Höfe auf ein
Dorf. Die einzelnen Anwesen sind dicht bewohnt, es treffen etwa 10
Menschen auf einen Hof. Wenn es somit im allgemeinen für die Unterkunft
von Truppen nicht an bedeckten Räumen gebricht, so ist doch der Zustand
dieser Unterkunftsräume großenteils so schlecht, daß bei günstiger
Witterung häufig das Biwak vorgezogen werden wird. Eine Ausnahme machen
die größeren und mittleren Städte (die bedeutendsten sind:
Warschau 756000 E., Lodz 352000 E., Bjelostok. 66000 E., Tschenstochau 54
000 E., Lublin 50 000 E., Brest-Litowsk 43 000 E., Petrokow 32 000 E.,
Radom 30 000 E.). Aber selbst in diesen sind viele Quartiere - namentlich
die der Juden - völlig ungeeignet zur Unterkunft. Wie sehr das Städtebild
vom westeuropäischen abweicht, ist schon daraus zu entnehmen, daß heute
noch fast die Hälfte der Häuser aus Holz besteht*). Geradezu jämmerlich
sind die Unterkunftsverhältnisse auf dem polnischen Dorf. Die ärmlichen
Behausungen enthalten meist nur einen einzigen Wohnraum mit nur einem
kleinen Fenster, Lehmboden und niedriger Decke; ohne Sinn für Ordnung,
Reinlichkeit und die einfachsten hygienischen Begriffe haust hier die
polnische Bauernfamilie, nicht selten gemeinsam mit dem Kleinvieh. So ist
denn in der Regel die Unterbringung der Truppe in den Scheunen der in den
Wohnhäusern weit vorzuziehen, während die Stäbe auf dem platten Lande
am besten in den nach westeuropäischen Begriffen freilich recht
bescheidenen Gutshöfen, Vorwerken oder auch in Fabrikgebäuden und Pfarrhöfen
Quartier beziehen. Als gute Unterkunftsräume dürfen schließlich nicht
unerwähnt bleiben die zahlreichen weitab der Stadt liegenden Kasernen
(sog. Schtaby). Daß das in der Regel aus Holzhäusern bestehende
polnische Dorf ungeeignet zur Verteidigung ist, liegt auf der Hand; eine
Ausnahme bilden vielerorts die massiv gebauten, oft mit hohen Mauern
umgebenen katholischen Kirchen.
Bodenerzeugnisse.
Im vorderen Kriegstheater findet eine intensive Bodenausnützung statt,
denn nur etwa 8 % der Gesamtfläche bleiben unproduktiv; etwa 30 % fallen
auf Ackerland, fast ebensoviel auf Wiesen- und Weideland. An Getreide wird
hauptsächlich R o g g e n gebaut (48 %); daneben viel Kartoffel (20 %),
aber wenig Weizen. Die Erträgnisse genügen für die einheimische Bevölkerung,
ja es ergibt sich häufig ein nicht unbeträchtlicher Überschuß; für
große, im Gebiete versammelte Truppenmassen reicht er jedoch nicht hin,
besteht ja schon im Frieden die Notwendigkeit der Zufuhr für einen Teil
der Armeekorps des Warschauer Militärbezirkes. Reicher als an Getreide
ist das Gebiet an Schlachtvieh: es treffen auf 100 E. 35 Stück Hornvieh,
ebensoviel Schafe und 222 Schweine; diese Ziffern übersteigen weit das
Bedürfnis der Bevölkerung, weshalb Vieh in beträchtlicher Menge zur
Ausfuhr gelangt.
*
Anzahl der Wohnhäuser in den Städten Polens: 78250, davon 39336 aus
Stein, 37569 aus Holz, Rest gemischt. (Nach Schlesinger.)
In
Bezug auf Schlachtvieh wird mithin eine in Polen operierende Armee gut
versorgt sein. Die Pferdezucht ist in Polen zwar nicht so hoch entwickelt
als in anderen Gebieten - es treffen nur 15 Pferde auf 100 E. immerhin
ergibt dies bei der dichten Bevölkerung eine recht beträchtliche
absolute Ziffer, in erster Linie an Vorspannpferden; ebenso fehlt es nicht
an Fahrzeugen, die in jedem Bauernhof anzutreffen sind. Die Industrie hat
in Polen in den letzten Jahren hauptsächlich durch deutsches Kapital und
deutsche Unternehmungslust einen starken Aufschwung genommen, besonders
gilt dies für Lodz und Umgebung (Baumwollenindustrie); weitere
Industriemittelpunkte sind Sossnowiza (Kohlen- und Eisenwerke) und
Warschau (Maschinen, Zuckerfabriken, Lederindustrie).
Eisenbahnen.
Im Vergleich zum übrigen Rußland, wo auf 1000 QW nur 10,7 Werst
Eisenbahnen treffen, ist das Bahnnetz im vorderen Kriegsschauplatze stark
entwickelt (30 Werst auf 1000 QW). Die ausgesprochene Verteidigungstendenz
Rußlands und die Wichtigkeit der "Zentralposition" kommt in der
ganzen Anlage zum Ausdruck, denn während links der Weichsel nur wenige
Hauptstränge gegen Deutschland und Österreich führen, drängen sich
rechts des Stromes die Linien um den Verteidigungsabschnitt bei Warschau
zusammen. Die beiden aus dem Auslande heranführenden Schienenstränge:
der von Alexandrowo nach Warschau und der von Granica nach Warschau haben
die westeuropäische Spurweite*), alle übrigen die weitere russische
Spurweite.
Nach der Stirnseite der Zentralposition führen 4 Linien aus dem inneren
Rußland heran:
1. von Petersburg über Wilna und Grodno die Bahn über Bj e l o s t o k -
Malkin nach Warschau (zweigeleisig),
2. von Bologoje (an der Petersburg-Moskauer Bahn) über Polozk-Lida die
Strecke Tscheremeha - Sjedlez - Warschau (zweigeleisig),
3. von Moskau die Linie über Brest - Litowsk - Lukowlwangorod (bis Lukow
zweigeleisig),
4. von Kijew die Strecke Cholm-Lublin-Iwangorod (eingeleisig).
*)
Die beiden Bahnen waren bis vor kurzem Privatbahnen; nunmehr sind sie
verstaatlicht (der Gesetzentwurf der Duma wurde am 31. Januar 1912 vom
Zaren genehmigt). Nach Zeitungsnachrichten besteht die Absicht, auch auf
den genannten Linien die russische Spurweite einzuführen.
Als
Q u e r v e r b i n d u n g e n in diesem Raume rechts der Weichsel dienen
nachstehende Linien:
1. die Bahn Grajewo - Ossowiez - Bjelostok (eingeleisig), Brest - Litowsk
- Cholm (zweigeleisig),
2. die Linie Ostrolenka - Malkin (eingeleisig), Sjedlez - Lukow - Lublin
(zweigeleisig),
3. die Linie Ostrolenka - Tluschtsch - Piljawa (eingeleisig) und
4. die Linie Mlawa - Nowogeorgijewsk - Warschau - Iwangorod (eingeleisig).
Die Linien 1 und 4 finden ihre Fortsetzung über die deutsche Grenze,
erstere in der Bahn nach Lyck und Lötzen, letztere in der nach
Deutsch-Eylau. Durch das weite Gebiet links der Weichsel führen nur 2
Verbindungen nach der deutschen Grenze: die wichtigere von Warschau über
Alexandrowo nach Thorn (Berlin), die andere von Warschau über Lodz nach
Kalisch (von da nach Lissa); beide Bahnen sind eingeleisig. Nach Österreich
führt von Warschau über Petrokow und von Iwangorod über Kjelzy je ein
Schienenstrang, die ganz nahe beieinander (bei Sossnowiza und Granica) die
galizische Grenze überschreiten. Als einzige Quierverbindung im südwestlichen
Polen dient die Strecke Lodz - Toliiaseliow - Koiisk - Bsin - Ostrowjez.
Ein Überblick über das Gesamteisenbahnnetz des vorderen
Kriegsschauplatzes, das im Vergleiche zum benachbarten deutschen überaus
licht erscheint, läßt erkennen, daß Rußland auf eine Offensive von
vornherein verzichtet, indem es sich mit den angeführten wenigen der
Grenze zustrebenden Linien begnügt; diese geringe Anzahl von Schienensträngen
erschwert aber andererseits auch einem siegreich vorgedrungenen deutschen
Heere die Einrichtung seiner rückwärtigen Verbindungen. Günstiger
liegen die Verhältnisse für die an der Weichsel defensiv auftretende
russische Armee: die Heranziehung von Ergänzungsmannschaften aus allen
Teilen des Reiches, die Zufuhr von Kriegsbedürfnissen jeder Art, auch aus
den reichen südlichen Gouvernements und die etwa notwendig werdende
Verschiebung von Truppen von einem Flügel zum anderen erscheint durch die
vorhandenen Linien gewährleistet.
Straßen.
An Chausseen ist das Gebiet für russische Verhältnisse außerordentlich
reich (über 7500 Werst), namentlich im Nordwesten. Ein großer Teil der
Straßenzüge geht strahlenförmig von Warschau aus, aber auch die übrigen
Städte, besonders die Industriestädte, haben gute
Verbindungen. 17 Chausseen führen aus Deutschland und Österreich in das
vordere Kriegstheater hinein. Die breiten Straßen werden größtenteils
in gutem Stande erhalten und sind zu jeder Jahreszeit für
Truppenbewegungen wohl verwendbar. Anders steht es mit dem dichten Netz
der Verbindungswege; ihr Zustand richtet sich nach dem Untergrund, der
Jahreszeit und Witterung, und es kann daher zur Zeit der Rasputiza
umsoweniger mit Sicherheit auf ihre Benützbarkeit errechnet werden, als
eine große Zahl dieser Wegeverbindungen im Lehmboden verläuft.
Befestigte
Plätze*).
Am rechten Flügel des polnischen Festungssystems liegt die den Bobrübergang
bei Ossowiez (an der Bahn Lyck-Grajewo-Bjelostok) sperrende Festung 3.
Klasse gleichen Namens. Der Bobr ist hier 60 m breit, das linke, südliche,
Ufer überhöht das rechte. Je 2 Forts in Lünettenform auf jedem Ufer
sichern den Übergang. Friedensbesatzung: 1 Infanterie-Regiment, 29
Festungsartillerie-Batterien, 1 Sappeur-Kompagnie, 1 Telegrafen-Kompagnie,
1 Ingenieurdepot, 1 Luftschiffer-Kompagnie. Die Werke von Lomsha sperren
den dortigen Narewübergang und den freien, von der deutschen Grenze her
gut zugänglichen Raum zwischen Wissa und Pissa. Die Befestigungen
bestanden 1908 aus 5 starken, teilweise bombensicheren Werken und mehreren
Batterien; der Bau eines sechsten war im Gang. Friedensbesatzung: 2
Infanterie-Regimenter, 1 Kavallerie-Regiment, 3 Feldartillerie-Batterien
und 1 Festungsartillerie-Batterie. Die weiteren befestigten Brückenköpfe
am Narew sind: Ostrolenka (ein Erdwerk am rechten, zwei feldmäßige
Batterien am linken Ufer). Friedensbesatzung in Nishegorod-Schtab bei
Ostrolenka: 1 Infanterie-, 1 Kavallerie-Regiment, 1 Sappeur-Bataillon.
Roshan (2 Erdwerke am rechten, 1 Batterie am linken Narewufer).
Friedensbesatzung: 1 Infanterie-Regiment in Sabalkan Schtab bei Roshan.
Pultusk, ein kleiner, rechtsseitiger Brückenkopf. Friedensbesatzung: 1
Infanterie-Regiment. Es folgt nun der große Waffenplatz von Segrsh,
Nowogeorgijewsk und Warschau, der nach den Plänen vom Jahre 1908
aufgebaut und beträchtlich verstärkt werden sollte. Wie weit diese
Absicht in die Tat umgesetzt wurde, ist nicht in die Öffentlichkeit
gedrungen, dagegen wurden 1910 Gerüchte laut, die von der Auflassung der
Weichselfestungen und der Zurückverlegung der vorderen
*)
Die folgenden Ausführungen sind größtenteils den Löbellschen
Jahresberichten vom Jahre 1908 entnommen.
Verteidigungsfront
in die Linie Bjelostok- Brest - Litowsk - oberer Bug sprächen.
Diese Streitfragen sind anscheinend noch ungelöst, wie aus der Schrift
Thilo von Trothas: "Russische Festungsfragen" hervorgeht, die
von den größten Meinungsverschiedenheiten innerhalb des russischen
Ingenieurkorps hinsichtlich dieses Punktes berichtet. Wahrscheinlich ist
es nicht, daß Rußland auf die Festhaltung und Verteidigung des von der
Natur für diesen Zweck hervorragend ausgestatteten vorderen
Kriegstheaters verzichten wird, denn wenn auch die dortigen Befestigungen
zum Teil veraltet sind, für einen Kampf um Zeitgewinn reichen sie im
Vereine mit den natürlichen Hindernissen jedenfalls aus und. auf einen
solchen wird sieh Rußland in der ersten Periode des Feldzugs beschränken
müssen. Nach den Plänen vom Jahre 1908 sollte Serozk (an der Einmündung
des Bug in den Narew) mehrere Forts erhalten. Segrsh, wo eine Brücke über
den Narew-Bug führt, ist ein rechtsseitiger, aus zwei starken ständigen
Werken bestehender Brückenkopf mit einer unterstützenden Stellung am
linken Ufer. An der Einmündung des Narew-Bug in die Weichsel liegt zum
Schutze der beiden über ersteren Fluß führenden Brücken (hiervon eine
Eisenbahnbrücke) und als Flügelstützpunkt des befestigten Lagers die
auf Befehl Napoleons I. im Jahre 1807 erbaute Festung
Nowogeorgijewsk.
Die alte Zitadelle am rechten Weichselufer ist gerade gegenüber der
Narew-Bug-Mündung, gelegen, während zum unmittelbaren Schutz der beiden
Brücken eine Befestigung dient, die auf der vom Narew-Bug und der
Weichsel gebildeten Landzunge bei Nowydwor angelegt ist. Mitte der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erhielt die Festung einen Gürtel
von 8 vorgeschobenen selbständigen Werken, die im Durchschnitt etwa 7 km
von der Kernbefestigung entfernt liegen. In den letzten Jahren soll ein
neuer, weiter hinausgeschobener Fortsgürtel angelegt worden sein. Es
folgen nun die Befestigungen
von Warschau,
dessen Fortsgürtel am linken Ufer 11 Forts und 1 Zwischenwerk umfaßt, während
am rechten Ufer 6 Gürtelwerke liegen. Nach den Plänen vom Jahre 1908
sollte der Ausbau der Zwischenfelder am linken Ufer vervollständigt und
die Forts den neuzeitlichen Anforderungen entsprechend verbessert werden,
am rechten Ufer aber ein neuer Fortsgürtel um 3-5 km vorgeschoben werden,
der die Verbindung mit Serozk und Segrsh herstellen sollte. - In
Nowogeorgijewsk- liegen 2 Infanterie-Regimenter und 6
Festungsartillerie-Batterien, in Warschau 7 Infanterie-Regimenter und 6
Festungsartillerie-Batterien neben Kavallerie, Feld-Artillerie und einer
Reihe von technischen Hilfstruppen.
Den linken Flügel der russischen Weichselfront bildet Iwangorod, an der
Einmündung des Wjeprsch; es hat 8 Werke, die das Kernwerk in einem Umfang
von 20 km umgeben, die beiden südwestlichen sind modernisiert, die
Zwischenfelder durch bombensichere Bauten verstärkt worden.
Friedensbesatzung von Iwangorod: 4 Festungsartillerie-Batterien.
Brest-Litowsk ist in mehrfacher Beziehung von Bedeutung: als Rückhalt der
vorerwähnten Weichselfestungen, als Brückenschutz an einem wichtigen
Abschnitte, der die Grenzlinie zwischen den polnischen und eigentlich
russischen Landesteilen darstellt und als Beherrscherin der großen
Eisenbahnlinie Warschau-Moskau sowie der in gleicher Richtung führenden
alten Reichsstraße. Die Festung, deren Friedensbesatzung 2
Infanterie-Regimenter und 4 Festungsartillerie-Batterien beträgt, hat 6
Forts (122 auf dem linken, 4 auf dem rechten Bugufer), nur etwa 5 km von
den Bugbrücken entfernt. So wie hier kann auch bei verschiedenen anderen
russischen befestigten Plätzen kaum mehr von einem eigentlichen Brückenschutz
gesprochen werden, denn der neuzeitlichen Artilleriewirkung gegenüber
liegen die veralteten Befestigungen zu nahe an der Brückenstelle.
Militärische
Bedeutung des Kriegsschauplatzes.
So stark die geschilderten, durch Ströme, Sümpfe und Befestigungen
gebildeten Verteidigungslinien auch sein mögen, der Kriegsschauplatz als
Ganzes betrachtet weist für Rußland doch empfindliche Mängel auf. Dazu
gehört neben der vielfach russenfeindlichen polnischen Bevölkerung vor
allem die Gestaltung des Kriegstheaters, das wie eine Landzunge weit in
fremdes Gebiet hineinraut und dadurch dem Gegner die Möglichkeit gibt,
von mehreren Seiten zu gleicher Zeit einzufallen. Immer muß Rußland
damit rechnen, daß es neben gleichzeitigem Angriff in der Front auch von
Norden her durch deutsche, von Süden her durch österreichische Armeen
umfaßt wird und daß beide Gegner versuchen werden, durch einen Vorstoß
auf Brest-Litowsk das vordere Kriegstheater vom übrigen Rußland
abzuschneiden. Vielleicht haben diese Befürchtungen auch zu der vor
einigen Jahren in Rußland aufgetauchten, schon berührten Streitfrage geführt,
ob es in Anbetracht dieser Umstände nicht vorteilhafter sei, von
vornherein auf die Verteidigung Polens zu verzichten und den ersten
Widerstand weiter östlich zu leisten. Freilich, auf eine Entscheidung
suchende Verteidigung wird, sich Rußland bei der im Anfange unzweifelhaft
vorhandenen militärischen Überlegenheit seiner Gegner kaum dort einlassen
können, wohl aber auf einen Kampf um Zeitgewinn, und dieser ist von höchster
Wichtigkeit, denn ohne ausreichenden Zeitgewinn ist Rußland nicht in der
Lage, seine unter den schwierigsten Verhältnissen durchzuführende
Mobilmachung zu beenden. Wohl würde einem Angriffsweise vorgehenden Rußland
die weit nach Westen verlaufende Ausbuchtung Polens zustatten kommen, denn
sie verkürzt auf das vorteilhafteste die Operationslinien auf Berlin und
Wien allein für Rußland ist aus den schon mehrfach berührten Gründen
ein Angriff so gut wie ausgeschlossen, es ist vorerst auf die Verteidigung
angewiesen, die es naturgemäß in der befestigten Zentralposition durchführen
wird.
Umgekehrt ergibt sich für Deutschland und Österreich die zwingende
Notwendigkeit, den ersten Angriff auf Polen zu richten, denn bei Außerachtlassung
des vorderen Kriegsschauplatzes, wie sie bei einem vereinzelten deutschen
Vorstoß aus Ostpreußen gegen Wilna und bei einem österreichischen aus
Galizien gegen Kiew denkbar wäre, würde Flanke und Rücken der Verbündeten
durch russische Streitkräfte in Polen empfindlich bedroht sein.
Deutschland ist daher gezwungen, mit einer Armee auf Warschau vorzustoßen;
es wird diesen Angriff in Ausnutzung der günstigen Gestaltung seiner
Grenzlinien wohl umfassend durchführen, wobei die aus Ostpreußen
vorgehenden Kräfte durch starke Flankensicherungen vor feindlichen
Unternehmungen von Wilna her zu schützen sind falls dorthin nicht ein
gleichzeitiger Angriff geführt wird. |